Zu feige für die Liebe – Warum traue ich mich nicht Männer anzusprechen?
In seiner Kolumne “Romeo und Julius” erzählt Autor Julius Geschichten von seiner Suche nach der Liebe in Berlin. Von schrägen Dates, gebrochenen und geheilten Herzen und der schimmernden Hoffnung, dass es den einen Romeo da draußen geben muss. Das ist Episode 3.
„Sorry, aber dann vielleicht nächstes Wochenende?“, fragt mich Benjamin an einem Freitagabend über mein iPhone, als ich in der WG-Küche von Linda und Lara sitze. Benjamin ist ein Typ, mit dem ich schon ein paar Monate chatte, den ich aber noch nie getroffen habe. Kennengelernt haben wir uns auf Tinder und das Nachrichten schreiben mit ihm macht wirklich Spaß, obwohl es an der unverbindlichen Oberfläche bleibt und ich nur ein paar Dinge über ihn weiß.
Ich weiß, dass er von Beruf Zahnarzt ist. Ich weiß, dass er eher aus dem Bauch heraus schreibt, als das unnötige „Ich warte eine Stunde, um zurückzuschreiben, damit der andere denkt, dass ich ein busy Leben habe, obwohl ich mein Mobiltelefon sowieso alle 10 Minuten nach Likes und WhatsApp-Gruppen-Updates überprüfe“-Spiel zu spielen. Und ich denke, dass er ein Typ alter Schule ist, so einer, der Türen aufhält, Stühle zurückzieht und einem ein subtiles Zeichen gibt, wenn man Spinat zwischen den Zähnen hat und als Gentleman zum Nachbartisch schaut, wenn man es hinter einer Serviette entfernt. Ob das wirklich so ist, weiß ich nicht – und es wird jetzt noch länger dauern, bis ich es herausfinde. Bis vor zehn Minuten wollten wir uns morgen Abend zu einem bis fünf Bier treffen, jetzt fährt er kurzfristig mit Freunden an die Ostsee.
Alles locker, easy.
„Klar, alles easy. Die Drinks holen wir nächstes Wochenende nach. Zwinkernder Smiley“, antworte ich auf seine Absage cool, obwohl ich „Das ist doch scheiße“ denke.
Eine weitere Woche, in der wir uns nicht sehen und eine weitere Woche, in der ich nicht aus meinem Senioren-Alltag herauskomme. Obwohl das Date natürlich erst mal wichtig ist, damit Benjamin und ich uns endlich kennenlernen, ist es auch wichtig, dass ich einfach mal wieder in eine ungewohnte Situation mit einem neuen Menschen komme. Solche Situationen und generell alles, was außerhalb meines Berliner Freundeskreises, den ich über die letzten fünf Jahre aufgebaut habe, stattfindet, fällt mir gerade wieder besonders schwer.
Ich habe eine ziemlich große, wahrscheinlich aber auch irgendwie normale Grundangst vor dem schattigen Reich, das nicht in meiner Komfortzone liegt. Eine Party, auf der ich niemanden außer dem Gastgeber kenne, ängstigt mich zum Beispiel. Genauso wie ein Berlin-Mitte-Laden, der Superfoods verkauft oder ein verlassener Elefantenfriedhof. Danke, Simba, aber den besuchst du lieber ohne mich! Trotzdem muss ich diese Angst manchmal überwinden und ein Date, bei dem es die kleine Möglichkeit gibt, den Mann meiner Träume kennenzulernen, scheint mir die beste Gelegenheit dafür.
Schlechte Sexanekdoten, Weißwein, Freunde
„Es gibt so wenige Typen, die gut lecken“. Laras neueste Bett-Geschichte zieht mich aus meinem inneren Monolog wieder an den WG-Tisch. „Der Letzte war wieder so schlimm“, lacht sie in die Runde. „Es fühlte sich gerade so an, als hätte er ein Wattepad ein bisschen nass gemacht und würde mich untenrum zaghaft abschminken, damit sich meine Haut nicht rötet.“
„Bohnengold, oder?“, sagt Lara eine Stunde später und bevor ich mich wirklich dagegen wehren kann, tanzen wir zu dritt vor dem DJ-Pult im Laden in der Reichenberger Straße. Körper an. Kopf aus.
Es fühlte sich gerade so an, als hätte er ein Wattepad ein bisschen nass gemacht und würde mich untenrum zaghaft abschminken.
„Ich hol’ uns ‘ne neue Runde Gin Tonics“ schreie ich den Mädels nach einem Song, der gefühlt 20 Minuten ohne große Veränderung oder den bekannten Drop durchs kleine Bohnengold hallte, ins Ohr. Ich bewege mich durch den kleinen Raum an die Bar und während ich am Tresen vergeblich versuche, die Aufmerksamkeit der Barkeeperin auf mich zu lenken, stützen sich zwei starke Hände neben mir ab. Mein Blick wandert seine linke Hand, die neben meiner rechten liegt, nach oben und folgt einer herausragenden Ader auf seinem Arm bis zur Spitze seines T-Shirts.
Prominente Arm-Adern sind ein großer Turn-on für mich. Neben Muttermalen, einem kantigen Gesicht, Bart, dunklen Augen und Haaren, die perfekt liegen, ohne, dass er wahrscheinlich etwas dafür gemacht hat, dass sie so liegen. Alle diese Attraktivitätskriterien erfüllt der große Unbekannte, der gerade in meiner geistigen Abwesenheit vier Wodka Tonics bestellt. Ich schaue in seine kleinen Augen, er nimmt die Drinks und dreht sich um. „Was willst du denn?“, fragt mich die Frau hinter der Bar und ich antworte mit erhitzten Wangen, die Alarmstufe Rot signalisieren und einem Herzschlag, wie ihn Profisportler vor dem „Auf die Plätze“ haben müssen.
Mein "50 Shades of Grey"-Kopfkino
Eine Runde Tanzen, Drinks und Zigarettenqualm später nehme ich die enge Horrortreppe in den Keller, auf Toilette und wasche mir mein Gesicht kalt ab. „Ob er schwul war?“, denke ich. Ob er mich gesehen hat, überhaupt wahrgenommen? Hätte ich etwas sagen sollen? Mit Fragen ohne Antworten biege ich wieder um die Ecke, schaue die hohen Stufen nach oben, um zu checken, ob ich warten muss, weil auf der Einbahnstraße nur eine Person wirklich Platz hat und da sind die Adern wieder. Erhitzte Wangen, Profisportler-Herzschlag und ein nächtlicher Tagtraum beginnt.
Er geht die Stufen runter, nimmt meine Hand und zieht mich in eine Toilettenkabine. Mit meinen Händen fahre ich seine Arme entlang, bleibe kurz bei einer kleinen Narbe, die er an einem Oberarm hat, hängen und ich fasse in seinen Bart und erfühle die Stoppeln. Er nimmt meine beiden Handgelenke und drückt sie gegen die Wände der Kabine, dass ich nicht weiter forschen kann, während er mich das erste Mal küsst. Intensiv, erst ohne Zunge, dann mit, keine Waschmaschinenzunge, sondern präzise Bewegungen. Ich befreie mich aus der gefügigen Stellung und umgreife seine Beckenknochen. Er beißt mir leicht ins rechte Ohrläppchen und wandert mit seiner Zunge in die Muschel, meine Augen auf sein Brusthaar gerichtet. Mit einer kräftigen Bewegung dreht er mich um, haucht tief in den Nacken und öffnet den obersten Knopf meiner Jeans. „Sorry!“, werde ich plötzlich von hinten angerempelt und stehe vor den kleinen Augen, die mich im Vorbeigehen fragend anschauen, während ein anderer Typ in großen Schritten bereits vor mir die Treppe erklimmt.
Mit einer kräftigen Bewegung dreht er mich um, haucht tief in den Nacken und öffnet den obersten Knopf meiner Jeans.
Ich drehe mich zu ihnen um, wir schauen uns an, ich überlege schnell, ob und was ich sagen könnte, sage nichts und hoffe nur inständig, dass der Unbekannte keine Gedanken lesen kann und mir nicht ansieht, dass mein „50 Shades of Grey“–Kopfkino ihn als neuen Hauptdarsteller hat.
Hätte, hätte, hätte
Zurück bei Linda auf der Tanzfläche – Lara steht wiederum mit ihrem neuen und einem sehr realen Hauptdarsteller knutschend in einer Ecke – erzähle ich ihr von meinen Begegnungen. „Ist er das?“, unterbricht sie meine etwas zu detaillierte Beschreibung. „Ja“, sage ich und während er mit seiner Gruppe durch die Tür nach vorne in die Bar und dann nach draußen geht, verlässt er nicht nur physisch den Clubraum. Viel Sex, der erste Streit, „Ich liebe dich“, ein Urlaub auf Sardinien, unser Labrador namens Manni und ein geteiltes Leben rasen wie bei einer Nahtoderfahrung vor meinem inneren Auge im Schnelldurchlauf vorbei.
Eine Shotrunde an der Bar spült die 5 Phasen der Trauer und diesen passenden, alten Andreas-Bourani-Song aus meinem System und lässt mich wieder tanzen, da stößt Lara zu uns. „Was ist mit dem Typen?“, frage ich sie in lauter Clubstimme. „Ach, der Typ kann warten. Ich feiere doch gerade mit euch.“ Ihre Worte richten meinen Blick auf den Tagträumer-Notausgang und ehe ich mich versehe, nimmt sie meine Hände und reißt sie mit ihren in die Luft. „Alles gut bei dir?“, fragt mich Linda, ein zweites Mal an diesem Abend, während mich Lara Pirouetten drehen lässt. Ich schaue sie und ihre kümmernden Augen in der Bewegung an und finde nur eine Antwort. "Es ist alles am besten.“