MEIN ERSTER URLAUB OHNE DOSENRAVIOLI #1 Mit Jochen Overbeck nach London

Zu Oberstufenzeiten unterschieden sich unsere Urlaube meistens nur in Nuancen. Die Grundregeln lauteten wie folgt: Fahrer war einer, der schon 18 und demzufolge im Besitz eines Führerscheins war, Ziel der Norden Italiens. Dort dann meistens ein Campingplatz, etwa in Riccione oder Lido Di Spina. Das waren seinerzeit – vermutlich hat sich daran nicht sehr viel geändert - im Prinzip Münchner Vorstädte mit einigen Extra-Features. Bedeutet: Mit etwas Glück lief man beim abendlichen Pizzaessen nicht nur drei bis vier Mitschülern, sondern auch dem Mathelehrer über den Weg.

Es hatte Mädchen, aber die kamen nicht nur aus Fürstenfeldbruck oder Germering, sondern auch aus Feucht oder Weiden. Es gab Bier der Traditionsmarke Augustiner, Ramazotti und Grappa, aber auch andere Möglichkeiten, sein Geld loszuwerden, etwa bei einem der vielen freundlichen Hütchenspieler an der Strandpromenade. Das Problem an der Sache war: Die Mädchen wollten nicht so recht, zumindest nicht mit uns, was im Nachhinein schon verständlich ist. Das Hütchenspiel bot nur kurzfristigen Nervenkitzel und sorgte für wenig angenehme Umstellungen im Speiseplan. Und dass jedesmal der Wagen aufgebrochen und die Hälfte unseres Hab und Guts gemopst wurde, nervte auch.

Vor allem waren wir kulturell ja schon so viel weiter! Im Schallplattenladen „Sound“ hatte ich mir nicht nur die neue Langrille der Damn Yankees gekauft, sondern auch „Definitly Maybe“ von Oasis. Der sehr volljährige Freund einer Schulkameradin erklärte mir die Smiths. Wir hingen im Lesecafé der Stadtbücherei herum und gingen sogar ins Theater! Insofern war bald klar, dass unser Urlaubsverhalten neu auskalibriert werden musste. London, das stand nach kurzer Unterredung am Tresen des „Squash-Palastes“ fest, sollte unser Ziel werden. Eine logische Entscheidung, denn: Erstens einmal konnte man damals noch nicht in all diese Mittelstädte mit RyanAir-Anschluss fliegen. Gab’s ja damals alles noch nicht! Außerdem lasen wir in der „Zillo“, einer damals angesagten Postille für sogenannte Wave-Freunde zwischen ungelenken Todessehnsuchtsgedichten und Tauschanfragen für Dead-Can-Dance-Bootlegs eine Kleinanzeige für dieses bestimmt total nette Pensiönchen in London: Das Karwyn House verlangte, so stand auf dem rosa Flatterpapier, 9 Pfund pro Nacht und Nase. Im Doppelzimmer! Beim Reisebüro in der Schöngeisinger Straße buchten wir einen Lufthansa-Flug für 260 Mark, und schon konnte die Post abgehen.

Nun war der ganze Komplex Reisen für mich nichts Neues. Aus biografischen Gründen flogen wir in den 80er-Jahren schon ausgiebig zwischen München und den USA umher. Doch wo man da eingeklemmt zwischen den beiden Brüdern saß und sich ähnliche Dramen abspielten wie auf der Autofahrt zum Neusiedler See, lehnten wir uns nun entspannt zwischen Reisegruppen und Business People zurück, tranken das erste Bier und kamen uns mordsmäßig erwachsen vor. Und erst die U-Bahn-Fahrt. 22 Stationen lang freuten wir uns, dass wir zwischen echten Engländern saßen bzw. standen. Dass wir danach noch einige Stationen Bus fahren mussten und so erst spätnachts im Karwyn House ankamen, störte uns nicht, es war gelebte Folklore. Auch die Stimmung in der Herberge, die zwei durch eher improvisiert durchgeführte Wandaufbrüche verbundene Reihenhäuser bespielte, war herrlich. Eine recht dicke und sehr stark müffelnde ältere Dame in sieben Röcken legte im Aufenthaltsraum Patiencen. Ein Punk machte sich in der Gemeinschaftsküche ein Tiefkühl-Chili warm, die Pappverpackung verzehrte er als Nährbeilage.

Junge Menschen trafen wir erst am nächsten Tag. Logisch, abends zuvor waren sie aus gewesen. Im Rückblick waren sie für uns die Rettung, denn das Internet steckte ja noch in den sogenannten Kinderschuhen. Ach, nicht mal das, es war ein topgeheimes Geheimprodukt des Militärs! Obwohl steinalt – mindestens 22 – nahm uns die Gruppe Trierer Indiepopper freundlich mit in die Discos des Stadt. Wir tanzten im Plastic People und im LA2. In ersterem war Pop-Prominenz unterwegs! Staunend und erfürchtig drückten wir uns in die Ecke, während uns unsere Indie-Mentoren die großen Namen zuraunten: Laetitia Sadier von Stereolab! Der eine von Shed Seven! Das war für uns neu, in München war das Nachtlokal unserer Wahl das „Liberty“ gewesen, das wir als Minderjährige um Punkt Zwölf verlassen mussten und in dem vor allem Clawfinger und Mr. Ed Jumps The Gun lief. Promis hingen da keine rum, nur der eine Typ, der aussah wie Kurt Cobain. Wir besuchten Konzerte von Bettie Serveert und Pavement, die – Fun Fact – seinerzeit Blumfeld als Supportact im Gepäck hatten. Den Auftritt der Rockgruppe H-Blockx erwähne ich an dieser Stelle lieber mal nicht, ohne isses schließlich viel schöner.

Die Tage wurden von zweierlei geprägt: Platten- und Klamottenläden. Um ersteres so richtig zu würdigen, fehlte a) die Kohle und b) wohl auch noch das Wissen. Wir nahmen uns halt alle Singles von BlurSuedeOasisPulp mit, die wir finden konnten. Aber gerade Zweiteres war für uns Kleinstadtkinder eine Offenbarung. In Camden Lock Market hingen die Stände voll mit Verheißungen aus den 70er-Jahren. Ich entschied mich für eine Kombi aus Cordhose- und Sakko in zwei Brauntönen, die nicht unbedingt zusammenpassten, mir aber – zumindest sagte das der Budenbesitzer – hervorragend standen. Mein Vater vermutete dagegen stets, in dem Sakko sei wohl jemand gestorben, es röche so seltsam. Später kaufte ich noch weinrote Docs und ein zu großes T-Shirt der Band Supergrass, das ich immer noch besitze. Den frühen Abend verbrachten wir für gewöhnlich im Pub, die Ernährung fand entweder in der Hostelküche statt oder an einer der zahllosen Pizza-Büdchen, in denen man stets ein Stück für ein Pfund bekam.

Nach gut eineinhalb Wochen fiel uns auf, dass wir von der Stadt noch gar nichts gesehen hatten, also zumindest nichts, mit dem man bei den Eltern, die schließlich den Flug bezahlt hatten, Eindruck schinden hätte können. So schälten wir uns am allerletzten Reisetag zu unchristlicher Mittagszeit aus den Betten und bestiegen einen Doppeldecker, der uns einmal quer durch die Stadt fuhr. Auf einem fußballplatzgroßen Falk-Plan versuchten wir unsere Fahrt nachzuvollziehen. Mir war schlecht. Anschließend besuchten wir den Tower. Meine Erinnerungen an diesen Teil der Reise sind jedoch ausgesprochen verwaschen. Waren da Raben? Ich glaube schon! Haben wir uns die Kronjuwelen angeschaut? Vermutlich, wenn ich die Augen schließe, sehe ich, wie ich von Menschenmassen sehr rasch an etwas vorbeigeschoben werde, das glänzt und glitzert. In London bin ich seitdem recht oft gewesen, in Brixton leider nie mehr. Ob wohl die alte Dame mit den sieben Röcken noch lebt?

Jochen Overbeck ist freier Journalist, arbeitet hauptsächlich für den Musikexpress, spricht mit herrlich tiefer Stimme und bayrischen Dialekt. Ein Mann wie ein Augustiner.

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