Bleibe ich für immer ein Dorftrottel oder gibt es Hoffnung?
In ihrer Kolumne "Fragen an das seltsame Leben" stellt Autorin Ilona Fragen zu den großen, aber vor allem zu den kleinen, unscheinbaren Rätseln des Alltags. In dieser Episode fragt sie sich, ob man eigentlich jemals aufhört, ein Dorfdepp zu sein, wenn man als solcher geboren wurde – oder ob es doch noch Hoffnung gibt.
Neulich war ich mal wieder in meinem Heimatdorf. Jetzt, im Juni, stehen die Felder voll zartgrüner Sommergerste, die Pfingstrosen wuchern durch die Holzlatten der Zäune im Vorgarten und in den Beeten hinter den Häusern leuchten dunkelrote Erdbeeren und pinkfarbene Rhabarberstangen durch die dichten, dunklen Blätter. Man trägt kurze Hosen in Beige oder Grau oder alte Jeans mit Flecken von Schlamm, Kettenöl, Blut, Gras. Man kennt jeden und grüßt immerhin fast jeden, so nett und beschaulich ist es dann ja doch nicht. Hunde kläffen sich an, jemand schimpft über die Stechmücken, der alte Rasensprenger schießt unkoordinierte Fontänen über die Wiese und die Kinder von gegenüber haben Windpocken. Katzen wärmen sich auf Autodächern oder kühlen sich im Schatten von großen Traktoren. Manchmal werden sie dabei überfahren, aber es gibt noch genügend andere, die die Besucher aus der Stadt dann streicheln können, wenn sie am Wochenende herfahren, um ihre grauen Gesichter über den Zaun an der Pferdekoppel baumeln zu lassen.
Hunde kläffen sich an, jemand schimpft über die Stechmücken, der alte Rasensprenger schießt unkoordinierte Fontänen über die Wiese und die Kinder von gegenüber haben Windpocken.
Probleme, die sich mit einer Kombizange lösen lassen
Das Leben im Dorf in einer Zeit, in der es die meisten jungen Menschen bei der ersten Gelegenheit in die nächste Stadt zieht, ist eine Bricolage aus Lebenswelten. Da ist noch ganz viel Tradition, das Leben mit den Jahreszeiten, der soziale Zusammenhalt, auch wenn man sich nicht leiden kann, die fehlende Eitelkeit, die Schlichtheit und Funktionalität von Dingen und Beziehungen. Atem statt Meta, frische Luft statt Mikroreflexionen über Teilbereiche eines Problems, das sich nicht mit einem lauten Fluchen und einer Kombizange lösen lässt. Natürlich ist es in Wahrheit nicht so einfach, aber weil ich so lange nicht da war, will ich gerne glauben, dass die Welt hier noch ein wenig greifbarer, ein wenig weniger spekulativ, verwirrend und roh ist. Den Menschen hier geht es gut, keiner hat bedeutend viel mehr als der andere, höchstens einen besser gepflegten Mercedes in der Garage oder eine etwas größere Photovoltaikanlage auf dem Dach.
Ich kann den Geruch von Tierfäkalien innerhalb von Sekunden dem jeweiligen Tier zuordnen.
Ich stelle fest, dass ich immer noch ein paar meiner früheren Dorfkinderfähigkeiten bewahrt habe und gebe damit vor meiner Begleitung, einem Stadtkind, an. “Ich kann den Geruch von Tierfäkalien innerhalb von Sekunden dem jeweiligen Tier zuordnen.”, sag ich nicht ohne Stolz und es stimmt. Pferd, Rind, Schwein, Geflügel – meine Nase detektiert den Unterschied binnen Sekunden auch noch nach Jahren. Bei einer Autofahrt durch Streuobstwiesen, Weiden und Getreidefeldern erkläre ich fachmännisch den Unterschied zwischen Gülle und Jauche und wie man Gerste, Weizen, Hafer und Roggen unterscheidet. Meinen Blick für gute Kletterbäume habe ich auch nicht verloren, wohl aber das Gefühl dafür, welcher Ast mein Körpergewicht tragen kann, wovon jetzt eine große senkrechte Schramme an meinem Schienbein zeugt. Auch Vogelrufe kann ich noch einigermaßen auseinanderhalten und wenn nicht, dann wenigstens überzeugend lügen, denn das Stadtkind an meiner Seite kann einen Spatz nicht von einer Amsel unterscheiden. Ich auch nicht mehr, aber das hat niemand gemerkt.
Den urbanen Stress aushalten
Trotzdem fühle ich mich insgesamt unbequem überlegen. Seit man in der großen Stadt lebt, hat man ja doch viel wichtigere Probleme als die Frage, wessen Katze die Pfotenspuren auf der Windschutzscheibe hinterlassen, ob der Mais das Gewitter von letzter Nacht überstanden hat und welchen CDU-Kandidaten man bei der nächsten Landtagswahl wählt. Zumindest rede ich mir das ein – allerdings habe ich aber auch den leisen Verdacht, dass es nicht größere, sondern vor allem mehr die nervigen, kleinen Probleme sind, die das Leben in der Stadt manchmal so zehrend machen, wenn man in einer Dorfidylle aufgewachsen ist. Urbaner Mikrostress, der einen an den Wochenenden in die Arme beziehungsweise unter die Hände eines milde lächelnden Spa-Masseures treibt. Den einzigen Stress, den ich als Landei früher kannte, war das pünktliche Erwischen des Busses, denn der fuhr nur fünfmal am Tag und solange ich noch keinen Führerschein hatte, war der die einzige Verbindung zur Welt.
Auf ewig beschränkt?
Ich frage mich, ob das Aufwachsen in einer dörflichen Beschütztheit bedeutet, sein ganzes Leben lang innerlich ein wenig beschränkt zu bleiben oder zumindest fortwährend gegen den kleinen Horizont vorzugehen, mit dem man sozialisiert wurde. Bis ich mit 19 in die Stadt zog, kannte ich viele Missstände, Probleme und gesellschaftliche Ungerechtigkeiten nur aus dem Fernsehen oder Referaten in der Schule und wurde in meiner nach Heckenrosen und frischem Heu duftenden Naivität jäh wachgerüttelt von der Wirklichkeit. Auch jetzt noch, ein paar Jahre danach, bin ich oft eher geschockt und gelähmt und fühle mich durch meine Privilegiertheit einerseits zum Aktivwerden gezwungen, andererseits genau dafür von meinem bisherigen Leben viel zu schlecht vorbereitet. Sich nicht an Armut, Gewalt und Ungerechtigkeit in großen Städten zu gewöhnen, nicht abzustumpfen und trotzdem nicht den Mut zu verlieren, finde ich gleichermaßen wichtig wie schwer.
Bis ich mit 19 in die Stadt zog, kannte ich viele Missstände, Probleme und gesellschaftliche Ungerechtigkeiten nur aus dem Fernsehen.
Mit jedem Mal, das ich wieder ins Dorf komme, merke ich aber auch, wie ich gewachsen bin. Wie mein Blick auf die Dinge weiter, reflektierter, umsichtiger und kritischer geworden ist. Wie ich anfange, die Ruhe zwischen Doppelhaushälften und Aufsitzrasenmähern zu schätzen, aber sie nicht romantisch zu verklären. Ich bin fast froh, dass mir diese spießbürgerliche Bräsigkeit schon nach ein paar Stunden anstrengend wird und sich der Zauber von Stille, Langsamkeit und Bedeutungslosigkeit schnell erst normal, dann langweilig und dann unecht anfühlt. Beim Geruch von Pferdemist muss ich an meine Mutter denken (sorry, Mama) und beim Wort Mauersegler an einen Vogel und nicht an den Biergarten am Mauerpark. Ich bin als Landei geboren, meine frühesten Erinnerungen sind geprägt davon – aber ich habe mich früh dazu entschieden, als Kuckuckskind ins Nest der Großstadt überzusiedeln. Gegen meine innere Dörflichkeit anzuarbeiten ist eine Aufgabe, die ich so ernst nehme wie meine Großmutter die Kehrwoche.
Das Stadtkind sagte übrigens, als wir gerade durch dichten, menschenleeren Mischwald wanderten: “Wenn man mal eine Weile nicht in Berlin ist, fällt einem wieder ein, dass die Welt eigentlich ganz schön ist.” und wir fanden das beide sehr wahr. Dann wollten wir abends ein Bier kaufen und kein Laden hatte mehr offen und wir fuhren schnell zurück nach Berlin.
Gegen meine innere Dörflichkeit anzuarbeiten ist eine Aufgabe, die ich so ernst nehme wie meine Großmutter die Kehrwoche.
Ilona Hartmann