DAS LEBEN DER ANDEREN #13 – Lo Graf von Blickensdorf

© Matze Hielscher

Winter 2007 in Berlin. Lo Blickensdorf sitzt allein in seiner 2-Zimmer-Altbauwohnung in Charlottenburg und weiß nicht weiter. Er nennt es seine persönliche Wirtschaftskrise, es ist die schwierigste Zeit in seinem Leben. Seine Frau ist ausgezogen, die Scheidung war sehr teuer, im Job bleiben jetzt schon lange die Angebote aus. Er ist damals ein ganz Anderer. In seinem Schrank hängen nur schwarze Klamotten, weil die sich am praktischsten waschen lassen, er hat kurze Haare, ist selbstverständlich links und war sogar mal Hausbesetzer. Früher. Lo hat eine Karriere als Maler und Schreiber hinter sich, war bei der Zitty, hat zahlreiche Drehbücher und für Harald Schmidt Gags geschrieben. Plötzlich ist es still. Lo ist fast 60, Single und das Telefon klingelt nicht mehr. Er sagt, hätte er das so laufen lassen, er wüsste nicht, wo das geendet hätte. Aber es kommt anders. Lo hat eine Idee. Lo wird Graf.

Zuerst ist es nur die Suche nach einem Künstlernamen. Lo findet, mit einem 'von' zwischen Vor- und Nachnamen könnten sich seine Bilder besser verkaufen lassen. Dann wird er großspurig. Warum nicht gleich Graf? Er setzt sich an seinen Schreibtisch und zeichnet sich ein Familienwappen. Eine Woche später sind die neuen Visitenkarten gedruckt. Lo geht raus und verteilt seine Karten, überall. Auf der Berlinale wirft er seine Graf-von-Blickensdorf-Visitenkarte mit dem selbstgemalten Familienwappen in jede Catering-Box.

Einige Wochen später kommen Briefe in Büttenpapier. Der Graf wird eingeladen. Zu Shop-Eröffnungen, Filmpremieren, zum Botschaftsempfang. Lo kann es nicht glauben und geht hin. Er isst Häppchen, trinkt Champagner und plaudert mit Schauspielern und Politikern. Alle sind sehr freundlich, alles ist umsonst. Irgendwann trifft er eine Gräfin. Sie will wissen, woher seine Familie genau kommt. Er sagt Schlesien, sie fragt "Ober- oder Unterschlesien?". Lo geht ungemütlich nach Hause und überlegt. Warum nicht einfach alles ganz offen angehen? Auf jeden Fall weitermachen. Er beginnt den Selbstversuch.

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Lo kauft sich eine goldene Uhr im Sonderangebot und legt sich ein paar günstige Anzüge und kunstseidene Einstecktücher zu. Er rasiert sich einen vornehmen Bart, lässt die Haare wachsen und kämmt sie zurück. Die Konfrontation mit seinen Freunden macht ihm ein bisschen Angst, aber die reagieren überraschend positiv. "Du warst doch schon immer was Besonderes".
Ein Freund leiht Lo eine Fritz-Krücke, er besorgt sich einen Grafenring für 7 Euro und nimmt ein bisschen Schauspielunterricht für die richtige Haltung. Von nun an geht es nur noch in Kostüm vor die Tür. Es passieren seltsame Dinge. Drogeriefachverkäuferinnen kichern wie 14-jährige Teenager, wenn er an die Kasse kommt. Eine schöne Stewardess verführt ihn in ihrem Hotelzimmer, am Imbiss wird ihm die Currywurst geschenkt: " Für Sie natürlich umsonst, Herr Graf." Zum Spaß schaltet Lo eine Kontaktanzeige, "Graf sucht Gräfin", die Resonanz ist groß. Die Damen stört es nicht, dass er kein Geld hat. Es geht ihnen nur um den Titel. Eine Verehrerin sprayt ihm nachts ein "Graf, ich liebe Dich" auf die Hauswand. Lo ist das sehr peinlich vor den Nachbarn und er malt in der Nacht ein 'Steffi' davor. Den Grafen kennt in seinem Charlottenburger Kiez mittlerweile jeder, das ist er, Lo Graf von Blickensdorf. Ich frag mich, ob das wirklich stimmt, was er da erzählt, aber es ist mir egal, ich will es glauben. Die anderen auch.

Man beginnt, ihm Geld zu zahlen, damit er auf Veranstaltungen erscheint. Das Fernsehen klopft an, wenn es einen Grafen braucht, seine Bilder verkaufen sich wieder. Lo wundert sich und beginnt ein Buch darüber zu schreiben. Er nennt es 'Werden Sie doch einfach Graf - Biste was, kriegste was.' Er schreibt es an seinem kleinen Schreibtisch zuhause in Krawatte und Jackett, die schwarzen Jeans und T-Shirts bringt er zum Altkleider-Container.

Er sagt, er wüsste auch nicht mehr so genau, wo die Wirklichkeit endet und wo seine Erfindung beginnt, auf jeden Fall sei das Leben jetzt eine Wundertüte! Er wohnt immer noch in seiner 2-Zimmer-Wohnung, aber er geht jetzt öfter in den Schlosspark. Das Schloss Charlottenburg ist quasi vor seiner Haustür. "Manchmal mach ich einfach die Augen zu und stell mir vor, es ist meins."

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Das letzte Mal haben wir uns mit einem Akrobaten unterhalten. 

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