White Trash und Marcel Proust - Was habe ich meinem Kind zu bieten?
„Cool trotz Kind“ ist für alle Eltern dort draußen. Autor Clint durchläuft dafür sämtliche Lebensentwürfe. Auf drei Jahre Kleinfamilie folgten vier Jahre Wechselmodell. Nun sieht er seine Tochter Wanda* nur noch am Wochenende. Ein Alltag zwischen Sehnsucht und Großstadt-Exzessen.
Sonntag, früher Abend, gegen 19 Uhr. Ich erwache in meinem Bett und brauche einen Moment, um mich zu orientieren. Ein Rundgang durch die Wohnung hilft mir dabei. Offensichtlich wurden Zigarren geraucht. Die Lautsprecher meiner Stereoanlage brummen im Leerlauf. Jemand muss zuletzt Parsifal in Stadionlautstärke gehört haben.
Ein Blick zur Staffelei: Ich habe anscheinend gemalt.
Ein Blick aufs Smartphone: Drei Anrufe in Abwesenheit.
Meine Tochter hat vergeblich versucht, mich zu erreichen.
Letztes Wochenende lief alles ganz anders. Da habe ich überhaupt nicht getrunken. Wanda hatte Geburtstag, und statt sie von Rostock hierher zu holen, bin ich gleich dort geblieben. Sie hat mir den alten Gutshof gezeigt, wo sie nun mit ihrer Mutter wohnt. Bei der Gelegenheit besorgten wir uns direkt was zum Abendessen: Champignons vom Rasen hinter dem Haus, Eier aus dem Hühnerstall. Wanda hat das Omelett selbst gebraten.
Auch sonst unterscheidet sich ihr Landleben grundsätzlich von dem, das sie bei mir in Berlin führt. Was sie nicht von den Bäumen pflücken kann, kauft ihre Mutter bei den umliegenden Höfen. Bezahlt wird per Kasse des Vertrauens. Wanda lebt plastikfrei, fernsehfrei, ist den ganzen Tag draußen, fährt mit dem Fahrrad fast täglich ans Meer. Wenn alle so leben würden, hätten wir sämtliche Klimaziele schon längst erreicht.
Von der Idylle ins Ghetto
Bei mir im Wedding sieht die Lage ganz anders aus. Wenn wir uns durch den Sperrmüll und die kreuz und quer abgestellten E-Roller zu meiner Wohnung gekämpft haben, landen wir meistens erstmal auf der Couch. Oft genug ziehen wir uns dann einen seichten Streifen rein, um den Horror der Öffis zu vergessen, der hinter uns liegt. Wenn wir Hunger haben, bestelle ich was beim Burgerladen um die Ecke. Das klingt natürlich nicht sehr gesund.
Auf der anderen Seite sieht Wanda bei mir Dinge, die es in ihrem Dorfleben nicht gibt. Einen Hauch von der großen, weiten Welt. Bilde ich mir zumindest gern ein. Ich meine, ich spreche jetzt nicht fließend Französisch. Aber natürlich lese ich meinen Proust trotzdem im Original, ich bin schließlich kein Tier. Gerade erst bin ich nach Amsterdam gefahren, um die Vermeers im Rijksmuseum zu betrachten. Davon kann ich meinem Kind dann berichten. Umso anschaulicher, weil der Museumsshop die bekanntesten Bilder als Playmobil-Figuren anbietet.
Natürlich sitzen wir auch sonst nicht nur auf dem Sofa herum. Diesen Samstag, zum Beispiel, sind wir wieder den ganzen Tag E-Roller gefahren. Retteten uns zwischendurch vor dem Regen unter die Bäume von Humboldthain und Weinbergspark. Als wir fertig waren, haben wir den Roller gewissenhaft so geparkt, dass kein Mensch mehr daran vorbeikommt. Ist klar. Und als wir wieder zu Hause waren, habe ich Wanda gezeigt, wie der Cocktailshaker funktioniert, den ich gerade gekauft hatte.
In guten, wie in schlechten Zeiten
Was ich damit sagen will: Bei mir geht es ambivalent zu. Ich bin White Trash, und gleichzeitig den höheren Sphären verhaftet. Das halte ich grundsätzlich für kein übles Lebensmodell. Und auch Wanda scheint die verschiedenen Eindrücke zu genießen. Jedenfalls weint sie bitterlich, als ich sie am Sonntag wieder zum Zug bringe. Ihr Opa wird mit ihr zurück an die Ostsee fahren.
Da stehen wir nun und sollen uns verabschieden, dabei will sie unbedingt bei mir in Berlin bleiben. Und alles, was ich ihr zum Trost anbieten kann, ist die Ankündigung, dass wir am Abend wieder telefonieren können.
Es ist nicht leicht, sie unter Tränen davonfahren zu sehen. Irgendwie ahne ich, dass die Turbulenzen, denen wir sie aussetzen, auf lange Sicht ihren Charakter stärken werden. Doch für den Moment, diesen Moment auf dem Bahnsteig, denke ich nur: armes Kind. Armes, armes Kind. Möglich, dass es dieser Kummer ist, der mich dann in den Rausch treibt. Vielleicht bin ich da auch grundsätzlich affin. So oder so: Als ich am frühen Abend wieder zu mir komme, mich im Selbstmitleid suhlend über meine Unzulänglichkeiten als Vater, habe ich genau das verpasst, worauf es ankommt: den Anruf meiner Tochter.
Die perfekte Mischung aus mondän und White Trash. Etwas Besseres fällt mir nicht ein.
Zum Glück erreiche ich sie dann noch. Es bleibt mir erspart, das Blackout-Gefühl und meine Nutzlosigkeit in all ihrer Pracht auskosten zu müssen. Wanda ist auch schon längst wieder vergnügt. Wir freuen uns gemeinsam auf die immer näher rückenden Herbstferien. Dann wird sie zehn Tage bei mir sein. Bis jetzt stehen Pferderennen, Tropical Island und ein "Der Herr der Ringe"-Marathon auf dem Programm. Die perfekte Mischung aus mondän und White Trash. Etwas Besseres fällt mir nicht ein.
* Name geändert