Kinder haben kein Recht auf eine eigene Meinung
„Cool trotz Kind“ ist für alle Eltern dort draußen. Autor Clint durchläuft dafür sämtliche Lebensentwürfe. Auf drei Jahre Kleinfamilie folgten vier Jahre Wechselmodell. Nun sieht er seine Tochter Wanda* nur noch am Wochenende. Ein Alltag zwischen Sehnsucht und Großstadt-Exzessen.
In meiner letzten Kolumne war ich mal wieder so frech zu behaupten, dass fast alle Menschen Idioten sind. Für mich liegt das klar auf der Hand. Dazu muss man nicht mal die großen Themen bemühen, wie den Zustand unseres Planeten. Es geht schon im Alltag los. Schaut euch die Leute an, wie sie Rolltreppe fahren und danach nicht beiseitetreten, sondern erstmal mit offenem Mund stehen bleiben und sich orientieren. Schaut sie euch auf der Autobahn an, wie sie mit 120 die Überholspur blockieren – und Staus produzieren von Flensburg bis an die Riviera.
Obwohl unsere Spezies so offensichtlich aus Dummstullen besteht, kommt immer jemand daher und will sie verteidigen. Das finde ich zwar erstaunlich, aber ich habe mich daran gewöhnt. Zwick einem Schwein ins Ohr und es quiekt dir was vor.
Was mich jedoch völlig unvorbereitet getroffen hat, ist die Richtung, aus der das neueste Plädoyer zugunsten der Menschheit kam. Denn es war nicht der übliche Aufschrei in der Gosse der Facebook-Kommentarspalten. Diesmal kam der Gegenwind von meiner eigenen Tochter.
Der Feind in den eigenen Reihen
„Papa, warum schimpfst du so über den Mann?“ hat sie neulich in der S-Bahn gefragt.
„Weil er so eine Hektik verbreitet. Siehst du, er will anscheinend am Ostkreuz aussteigen. Aber jetzt sind wir gerade erst Warschauer losgefahren und er drängelt sich schon zum Ausgang, als würde es um Leben und Tod gehen. Und fällt dabei noch fast über seinen depperten Rollkoffer.“
„Vielleicht ist er nur zu Besuch in Berlin.“
„Ja, und? Wir stellen uns in anderen Städten auch nicht so blöde an.“
„Manche Leute können das halt nicht so gut.“
Was soll man dazu noch sagen? Eigentlich kann ich dem Kind in so einem Moment nur den Mund verbieten. Zumal sie bei mir, ihrem hochverehrten Vater, nie so nachsichtig ist. Wenn da der Pferdeschwanz mal ein bisschen zu locker gebunden ist, hängt gleich der Haussegen schief. Und dass ich farbenblind bin, rechnet sie mir überhaupt als Charakterschwäche an.
„Papa, welche Farbe haben die Blätter da?“
„Ich weiß nicht genau. Braun, oder so?“
„Nein, ROT! Du musst wirklich mal besser schauen.“
Unter dem Kommando des Kindes geht es streng, aber ungerecht zu
Aber wenn dann irgendein Trottel über seine eigenen Schnürsenkel fliegt, weil er wie ein Gestörter der U-Bahn hinterher rennt, ist sie wieder die Diplomatie in Person.
„Komm, Papa, hilf ihm mal hoch!“
„Ich will aber lieber den Leuten helfen, die er über den Haufen gerannt hat.“
„Vielleicht hat er es eilig. Vielleicht ist seine Frau im Krankenhaus und kriegt ein Baby.“
Wahrscheinlich versucht sie mit ihrer Geduld nur meine cholerischen Anfälle auszugleichen. Anders kann ich mir diese Nachsicht nicht erklären. Oder hat sie ein grundlegendes Harmoniebedürfnis? Vielleicht sind das auch schon die ersten Anzeichen pubertärer Renitenz. Sie widerspricht einfach allem, was von mir altem, weißen Mann kommt.
„Jetzt hör dir an, wie die mit ihrem Kind redet!“ motze ich auf dem Spielplatz.
„Vielleicht macht ihr das Spaß.“
„Dutzi dutzi du?! Was soll denn das Kind dabei lernen? Dass alle Erwachsenen debil sind? Dass es sich scheiße anhört, wenn sie reden? Das ist doch würdelos.“
„Was heißt würdelos?“, will Wanda wissen.
„Das ist, wenn Menschen alles erreichen könnten, wenn sie nur einen kleinen Schritt in die richtige Richtung machen müssten, um ein Licht zu sein in der Dunkelheit. Und sich dann lieber dafür entscheiden, genauso behämmert wie alle anderen zu sein.“
„Bin ich ein Licht in der Dunkelheit?“, fragt sie besorgt.
„Du bist eine Supernova.“
Einfach ein Licht in der Dunkelheit sein
Nachdem ich Wanda auch diesen Begriff erklärt habe, ist sie beruhigt. Na, bitte. Man muss nur den Ehrgeiz der lieben Kleinen befriedigen. Ihren Drang zu gefallen. Kinder sind eben genauso rückgratlos wie liebenswert. Bestimmt kann ich Wanda auch langfristig auf meine Seite ziehen. Ich muss sie nur für misanthropische Sprüche belohnen. Mit Gummibärchen oder Kinogutscheinen. Sie wird es mir danken, wenn sie erwachsen ist.
* Name geändert