Wann sollten Kinder erfahren, dass es keinen Weihnachtsmann gibt?
"Cool trotz Kind" ist für alle Eltern dort draußen. Autor Clint durchläuft dafür sämtliche Lebensentwürfe. Auf drei Jahre Kleinfamilie folgten vier Jahre Wechselmodell. Nun sieht er seine Tochter Wanda* nur noch am Wochenende. Ein Alltag zwischen Sehnsucht und Großstadt-Exzessen.
Wenn ich im Supermarkt an der Verkaufsfläche für saisonale Waren vorbeigehe, kann ich die beunruhigende Gewissheit nicht länger verdrängen: Die Weihnachtszeit rückt nicht nur näher, sie hat längst begonnen. Und weil eine Katastrophe selten allein kommt, steht auch wieder der nächste Lockdown vor der Tür.
Ich kann mir gut ein Gespräch mit meinem Kind in drei Jahren vorstellen. Wenn die Zeit vor Corona aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden sein wird.
„Papa, was ist eigentlich Weihnachten?“
„Das ist, wenn alle Geschäfte geschlossen sind, außer Lebensmittelläden, Apotheken und Drogerien, und man sich nur noch mit maximal fünf Personen aus zwei Haushalten treffen darf.“
„Werden Kinder unter zwölf Jahren auch mitgezählt?“
„Das kommt auf die Konfession an.“
Weihnachten ist nur ein zweiter Black Friday
Apropos Konfessionen: Mir ist natürlich klar, dass man die Frage im Titel nur stellen wird, wenn man von einem christlich-abendländischen Weltbild ausgeht. Aber ist Weihnachten überhaupt ein christlicher Brauch? Oder eher sowas wie ein zweiter Black Friday? Ein willkommener Anlass, um die Konsumwut des Pöbels zu entfesseln? Mit anderen Worten: kapitalistische Kackscheiße.
Ja, ja, ich weiß. Abseits rein christlicher Werte steht Weihnachten angeblich auch für die Heimkehr zu seinen Liebsten. Das will man mir zumindest in den Schädel prügeln, seit ich denken kann. Aber wenn ich die Leute beim Shoppen sehe, wie sie panisch die letzten Geschenke an sich reißen, fällt es mir irgendwie schwer, an Entschleunigung und Familienidylle zu denken.
Wenn ich die Leute beim Shoppen sehe, wie sie panisch die letzten Geschenke an sich reißen, fällt es mir irgendwie schwer, an Entschleunigung und Familienidylle zu denken.
Man merkt, ich mag Weihnachten nicht besonders. Deshalb habe ich es frühzeitig aus meinem Leben verbannt. Zehn Jahre lang fand Weihnachten für mich praktisch nicht statt. Eine wahrhaft besinnliche Zeit. Doch dann ist etwas passiert, das den Schrecken mit einem Schlag zurückgebracht hat: Die Geburt meiner Tochter.
Plötzlich ging es nicht mehr darum, was meine Vorlieben sind. Plötzlich war klar: Auch wenn ich Weihnachten doof finde, muss ich trotzdem diesen Zauber erzeugen, um dem Kind seine unschuldige Freude nicht zu zerstören.
Das ist unfair. Wäre es anders herum, würde ich mich auf meine katholischen Wurzeln besinnen und das Kind an Heiligabend stundenlang in die Kirche schleifen, würde das Stadtvolk um mich herum sofort krähen: Lass doch das arme Kind mit deinen ulkigen Bräuchen in Ruhe.
Der Weihnachtsmann ist eine unverschämte Lüge
Aber Anlügen geht dann wieder. Das muss man sich mal vorstellen. Es gilt als konform, dem Kind zu verklickern, dass ein alter, adipöser Mann in Lumpen durch den Kamin gekrochen kommt, um seinen Scheiß unterm Baum abzuladen. Was denn überhaupt für ein Kamin? Und dann bin ich der Böse, wenn ich bei dieser Farce nicht mitspielen will?
Es gibt keinen Weihnachtsmann. Und die Geschichte geht auch nicht gut aus. Es wäre viel sinnvoller, den Kindern zu erklären, wie es zum Holocaust kommen konnte. Beziehungsweise, dass es ihn überhaupt gegeben hat. Dann gäbe es nicht so viele Idioten, die nicht daran glauben wollen. Aber ja, Weihnachten ist halt beschaulicher. Meine Ansichten als Vater sind nicht gefragt. Das Kind hat mich wieder mal bei den Eiern, altmodisch ausgedrückt.
Aber eine Sache zum Schluss: Wenn sich an Heiligabend unbedingt eine mystische Entität im Heizungsrohr materialisieren muss, dann ist das verdammt noch mal nicht der Weihnachtsmann, sondern das fucking Christkind. Ende der Folklore-Lektion.