Wenn dich die Öffis nerven, bist du zu weich für Berlin

© Hella Wittenberg

Eigentlich müsste ich inzwischen daran gewöhnt sein. Ich nähere mich meinem zwanzigsten Jahr in dieser Stadt und nehme an, dass ich den meisten ihrer Eigenheiten begegnet bin. Doch statt abgebrühter zu werden, beobachte ich an mir in letzter Zeit den gegenteiligen Effekt: Ich werde empfindlicher, fickriger, mein Nervenkostüm flattert an mir wie das dünnste Fähnchen im Wind.

An sich ist das ja kein Wunder. Die Zeiten sind wild, die Stadt wird voller und voller. Es reicht, in der Frühe mit den Öffentlichen zur Arbeit zu fahren, um das gesamte Spektrum des Elends zu durchmessen. In diesem kurzen Intervall zwischen Aufwachen und Arbeitsbeginn hat man bereits Krach aus zahllosen Smartphones gehört, hat mindestens dreimal Pisse und Kotze gerochen, und ebenso oft ein schlechtes Gewissen wegen der eigenen Privilegien gehabt, weil man nicht jeder schnorrenden Person sein Geld in den Rachen werfen will.

Dit is Berlin!

Letztes Wochenende hatte ich das ultimative Kontrastprogramm zu dieser Misere. Ich war auf dem Land, in Thüringen, zu Gast auf einem richtigen Bauernhof. Die Leute dort wirkten gleichzeitig müde und energetisch, denn es ist Erntezeit. Hundert Hektar Getreide waren noch zu dreschen, eine Arbeit von 10 bis 12 Tagen. Die jedoch nicht richtig angegangen werden konnte, weil das Zeug durch den Regen zu nass war. Raps und Weizen müssen bei der Ernte eine bestimmte Kornfeuchte haben. Ist die zu hoch, kriegt man in der Mühle einen schlechteren Preis, weil aufwendig getrocknet werden muss. Soll man also auf Wind und Sonne warten? Oder lieber schnell dreschen, um nicht noch mehr Regen zu riskieren?

Ich meine, das sind doch mal Probleme! Handfeste, echte Probleme, deren Lösung unmittelbar dem Allgemeinwohl zugute kommt. Da kann ich mit meinen Künstlersorgen einpacken. Die ganze Großstadt mit ihren Agenturen und Redaktionen und Depressionen kann da mal einpacken.
Nach dem Bauernhof war ich auf einem Weingut. Der Winzer führte mich herum, ließ mich direkt aus den Tanks von seinen Weinen kosten. Dabei erzählte er, dass ihm im vergangenen Jahr zweimal fast 70% der Trauben durch Frost eingegangen sind. Zweimal! Und da heule ich rum wegen ein bisschen Urin in der U-Bahn.

Wir Stadtmenschen haben den Bezug zur Realität verloren

Ich habe an diesem Wochenende ernsthaft darüber nachgedacht, ob ich nach knapp 20 Jahren Berlin auch reif bin für die Flucht aufs Land. Wie so viele andere vor mir. Ich komme gebürtig aus einer Weinbaugegend, als junges Ding habe ich viel für einen Winzer gearbeitet und damit geliebäugelt, selbst diesen Lebensweg einzuschlagen. Vielleicht ist die Zeit dafür nun gekommen? Vielleicht sollte ich aufhören zu jammern und meine begehrte Berliner Wohnung freimachen für die nächsten Glücksritter, die es in den Moloch zieht?

So ungefähr gingen meine Gedanken, als ich auf dem Rückweg im Auto saß. Die Aussicht, am nächsten Morgen wieder in der U8 sitzen zu müssen, erschien mir wenig verlockend. Doch was soll ich sagen? Irgendwann tauchte der Funkturm am Horizont auf. Ich geriet direkt in einen Stau, der Berliner Alltag hatte mich wieder. Doch statt des erwarteten Überdrusses, fühlte ich nichts als die reine Freude. Es ist immer schön, aus Berlin wegzukommen. Doch nichts ist so schön, wie nach Berlin zurückzukommen. So geht es mir jedenfalls.

Es ist immer schön, aus Berlin wegzukommen. Doch nichts ist so schön, wie nach Berlin zurückzukommen.

Während ich das hier schreibe, kommen mir diese Worte wieder übermäßig romantisch vor. Nach ein paar Tagen Schienenersatzverkehr und nachdem ich an jeder Straßenecke mindestens einem Bekloppten begegnet bin, wirkt das Landleben wieder verführerisch. Doch ich sollte wohl der Tatsache ins Auge sehen, dass ich sehr gut hierher passe. Ich bin genauso kaputt wie diese verdammte Stadt. Sie ist mein Zuhause, ob ich will oder nicht. Also sorry, liebe Neuankömmlinge. Ich fürchte, ich muss meine Wohnung noch eine Weile behalten.

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