Droht uns das Ende der Späti-Kultur?
Florastraße, Pankow, Freitagabend um neun. Ich stehe vor der „Pivnice Prager Frühling“, einer tschechischen Kneipe, obwohl ich eigentlich über Spätis schreiben soll. Beziehungsweise über das Ende der Späti-Kultur. Wie ich im Tagesspiegel gelesen habe, arbeitet die Ordnungsstadträtin der CDU an einem neuen Konzept für die Nutzung von Gehwegen in Pankow – das es den Spätis massiv erschweren soll, Tische vor ihren Läden aufzustellen.
Als fleißiger Kneipengänger habe ich ein ambivalentes Verhältnis zum Mythos „Späti-Kultur“. Was soll das überhaupt sein? Für mich bedeutet Späti-Kultur, dass ich zu jeder Tages- und Nachtzeit meinen Bedarf an Bier und Kippen und YumYum-Suppen und Wodka besorgen kann. Das ist für mich das Schönste am Großstadtleben, ein wahrer Segen: Sich nicht nach irgendwelchen absurden Öffnungszeiten richten zu müssen. Genau dafür sind Spätis da. Und nicht, um Bierbänke aufzustellen und mit Billigpreisen den Kneipen Konkurrenz zu machen (so zumindest meine Meinung als alter, weißer Mann).
Späti-Kultur und Biergarten sind zwei verschiedene Dinge. Oder nicht?
Während ich also nach Pankow aufbreche, um die Stimmung bei den ansässigen Späti-Betreiber*innen auszuloten, habe ich nicht unbedingt vor, für die ultimative Freizügigkeit einzutreten. Lieber nutze ich den Ausflug für ein Experiment. Ich habe gerade erst das tolle Buch „Verkatert“ von Shaughnessy Bishop-Stall gelesen, in dem er sich auf die Suche nach einem Heilmittel gegen den Kater macht. Und es findet. Schon längst wollte ich das mal ausprobieren. Also werde ich an jeder Station einen Drink zu mir nehmen, schön durcheinander, um auch dieses Rätsel endlich zu ergründen.
Ich starte um acht Uhr abends am S-Bahnhof Wollankstraße. Stoße nach wenigen Schritten auf einen Laden namens „Flora Bäckerei & Spätkauf“. Weder Stühle noch Bänke davor. Nanu? Vorauseilender Gehorsam? Während ich meine Flasche Jubi bezahle, erklärt mir der Betreiber, dass er keinen Bock auf den Stress mit den Nachbarn hat. Und es deshalb von vornherein sein lässt mit der Bestuhlung. Ich gehe weiter, vorbei an der oben genannten Pivnice, die Florastraße entlang, bis zum S-Bahnhof Pankow und weiter in Richtung Rathaus. Vor keinem der Spätis kann man sich hinsetzen, die Gegend wirkt ziemlich tot.
Erst nach einer Stunde und vier Drinks werde ich fündig. Vor dem „Wollank-Minimarkt“ stehen zwei verwaiste Tische auf einer Fläche, auf der man locker sechs oder acht aufstellen könnte. Mit einem Bierchen lasse ich mich dort nieder, werde jedoch sofort vom Betreiber aufgescheucht.
„Hey, mein Freund, du darfst hier keinen Alkohol trinken!“
„Wirklich nicht?“, frage ich.
„Wenn das Ordnungsamt jetzt vorbei kommt, muss ich 500 Euro Bußgeld zahlen.“
Ich schaue mich um, leere die Flasche auf ex und drücke sie ihm in die Hand.
„Das wusste ich nicht“, sage ich. „Mir wurde gesagt, dass jetzt erst Verschärfungen kommen sollen.“
„Nein, nein, ist schon alles verboten. Sieben Jahre lang hatte ich eine Schanklizenz für draußen, aber vor fünf, sechs Monaten wurde sie mir gekündigt.“
Ein weiterer Mann stößt dazu, stellt sich kurz darauf als der Inhaber des nebenan gelegenen „Bistro Razzak“ vor. Auch er klagt, dass er seit Kurzem nur noch fünf kleine Tische aufstellen darf.
„Das ist doch scheiße“, meint er. „Wir haben gerade so Corona überstanden und jetzt kommen die nächsten Einschränkungen. Im Sommer setzt sich doch kein Mensch in meinen aufgeheizten Laden rein!“
Die Verbote sind längst in Kraft
Ein wenig ratlos ziehe ich weiter. Spüre auch langsam ein Problem auf mich zukommen, das alle vor dem Späti Trinkenden kennen dürften: Ich muss mal pullern. Genau deshalb sind die Straßengelage in der Nachbarschaft auch immer so unbeliebt. Nicht nur wegen der Lautstärke, sondern weil sich das Feiervolk mangels Toiletten in Büschen und Hauseingängen erleichtert. Weil ich selbst noch nicht so verroht, bzw. alkoholisiert bin, steuere ich den „Prager Frühling“ an. Was für eine wertvolle Einrichtung, so eine Trinkhalle mit Pissoir!
Nachdem ich dem jungen Wirt eine Weile beim Bedienen der zahlreichen Kundschaft zugeschaut habe, oute ich mich als rasende Reporterin. Und will wissen, ob er sich als Gastronom von den Spätis bedroht fühlt. Er hört meinem Vortrag zu, schüttelt bald ungeduldig den Kopf:
„Das Problem sind nicht die Spätis!“, ruft er. „Sondern diese Leute, die sich hier Wohnungen für 800.000 Euro kaufen und dann die Polizei rufen, weil es ihnen zu laut ist. Die arbeiten alle im Internet und kriegen nichts mit außerhalb ihrer Bubble. Von dem Leben, das hier stattfindet. Späti oder Kneipe, ist doch scheißegal! Die Spätis kriegen im Sommer mehr Gäste, ich kriege im Winter mehr. Wichtig ist, dass die Menschen einen Ort haben, um sich zu treffen. Das ist schließlich Berlin!“
„Wie heißt du?“, frage ich.
„Tomáš.“
„Danke, Tomáš. Du hast mir gerade wieder ein bisschen die Frisur zurecht gerückt.“
„Weißt du, ich komme aus Košice, das ist die zweitgrößte Stadt in der Slowakei. Und da gibt es kaum noch Kneipen, weil alles weggeklagt wurde. Wenn wir nicht aufpassen, sieht es hier bald genauso aus. Geh mal in die Gleimstraße, zu „Höher's Eck“. Das gibt es seit 100 Jahren und es soll nun geschlossen werden wegen der Beschwerde von einer einzelnen Nachbarin!“
Keine Konkurrenz zwischen Späti und Kneipe
Da in Pankow sowieso nicht viel mehr los zu sein scheint, tue ich genau das, schließlich gehört Prenzlauer Berg zum gleichen Bezirk. Auf der Schönhauser Allee springe ich aus der M1, als ich einen Späti mit vollbesetzten Außentischen entdecke. Es wird ausnahmslos Alkohol getrunken. Ich nenne den Namen des Ladens nicht, denn wie ich sogleich erfahre, ist der Ausschank auch hier längst verboten.
„Und was passiert, wenn die Polizei kommt?“, frage ich.
„Oh, die kommt jeden Tag“, sagt der Betreiber. „Aber die tun hier nichts. Ich weiß, wie es in Pankow inzwischen abgeht. Aber wir sind hier auf der Schönhauser, und hier halten alle Spätis und Restaurants zusammen.“
„Also musst du kein Bußgeld zahlen?“
„Doch, manchmal muss ich zahlen. Ich zahle auch 400 Euro im Jahr, dass ich diese beiden Tische hier aufstellen darf.“
Soviel also zu dem Gerücht, Spätis bräuchten keine Genehmigung für ihre Außenbestuhlung. Sowohl auf der Schönhauser Allee, als auch in der Gleimstraße komme ich an weiteren gutbesuchten Läden vorbei. Und erhalte überall die gleiche Auskunft: Die Betreiber*innen dürften zwar eigentlich keinen Alkohol auf die Terrassen verkaufen, nehmen das Risiko eines Bußgeldes aber in Kauf.
Die Betreiber dürften zwar eigentlich keinen Alkohol auf die Terrassen verkaufen, nehmen das Risiko eines Bußgeldes aber in Kauf.
Durch die vielen Drinks (zuletzt bin ich auf kleine Fläschchen mit Wodka und Bourbon umgestiegen) spüre ich auch in mir das Erwachen eines gewissen Kampfgeistes. Da faseln immer alle vom wunderbar freien Berlin, aber in Wahrheit wird längst alles verboten, Stück für Stück. Da ich schon mal in der Gegend bin, statte ich dem Wirt im „Salvatore Pulvermacher“ einen Besuch ab. Bei einem doppelten Cynar (Artischocke, gut für die Leber), unterrichte ich ihn von meinen neuesten Erkenntnissen.
„Naja“, sagt er. „Ich hab genug Gäste, mich stören die Spätis nicht. Aber es ist schon unfair, wie viele Auflagen wir als Kneipen erfüllen müssen. Und die müssen das nicht.“
„Stichwort Toilette?“
„Zum Beispiel. Ich finde, wenn sie schon Alkohol ausschenken, müssten sie auch eine Toilette zur Verfügung stellen. Dann gäb's auch weniger Ärger mit den Nachbarn.“
Durch die wilde Mischung der zu mir genommenen Getränke bin ich längst reif für das besagte Katergegenmittel und ein Nickerchen. Doch da ich nun eine Fährte gewittert habe, muss ich ihr auch bis zum Ende folgen. Vor „Höher's Eck“ ist Hochbetrieb an den Tischen, auch drin an der Theke geht es feuchtfröhlich zu. Das Publikum ist bunt gemischt, hippes Jungvolk neben alteingesessenen Trinkerinnen und Trinkern.
Als ich den Mann hinterm Tresen auf die drohende Schließung anspreche, berichtet er mir das Gleiche wie Tomáš: Hundert Jahre Berliner Kneipenkultur sollen der schlechten Laune einer einzelnen Anwohnerin weichen.
„Weeßte wat?“, ruft ein Gast und knallt ein Klemmbrett vor mir auf den Tresen. „Wir sind ja hier in Berlin, kannste also gleich analog unterschreiben.“
Es ist eine Petition gegen die Schließung, gut 10.000 der benötigten 15.000 Unterschriften sind schon gesammelt. Ich verspreche, den Aufruf zu teilen, was ich hiermit gern tue. Denn wo soll das alles noch hinführen? Wenn alle Kneipen und Spätis bis aufs Blut verklagt werden, finden wir uns bald in einer sehr tristen Stadt wieder. Das mag die Kleingeister freuen, die ihr Kaff aus dem Allgäu oder aus Ostwestfalen hierher verpflanzen wollen.
Doch als lebensfroher Spinner bin ich hochfroh, dass ich an einem Ort lebe, an dem man spontan von Späti zu Späti zu Kneipe zu Kneipe ziehen kann, um ein ominöses Katergegenmittel auszuprobieren. Es wirkt übrigens, sind nur ein Haufen Pillen: Vitamin B1, B6, B12, Mariendistel, Magnesium, Weihrauch und am wichtigsten: N-Acetylcystein. Das alles vorm Schlafen einnehmen und man erwacht am nächsten Morgen wie ein neugeborenes Baby. Gut möglich, dass manche so ein Experiment krank finden. Doch eines kann ich euch sagen: Es ist bei Weitem nicht so krank, wie aus purem Egoismus ein Stück Großstadtkultur wegzuklagen.