Sogar in Berlin kann man tolle Menschen treffen
Wer in Berlin lebt oder die Stadt mal besucht hat, weiß, wie anstrengend es hier werden kann. Berlin ist dreckig, Berlin ist schlampig, in großen Teilen nicht funktional. Wer schon mal versucht hat, einen Behördentermin zu kriegen oder mit den öffentlichen Verkehrsmitteln von einem beliebigen Punkt zum anderen zu gelangen, kann ein Lied davon singen. Ich habe es hier schon mehrfach getan und werde dessen nicht müde.
„Dann zieh doch weg!“, höre ich es immer wieder krähen. An sich ein Ratschlag von großer Weitsicht, dem ich leider nicht folgen kann. Denn ach, mir schwant, ich würde mich auch an jedem anderen Ort unwohl fühlen, an dem Menschen leben. Allein mit ihrer Anwesenheit spucken sie mir immer wieder in die Suppe. Wer es immer noch nicht verstanden hat: Ich mag keine Menschen. Umso erstaunlicher, dass es neulich ausgerechnet ein Exemplar genau dieser Spezies war, das mich aus einem Stimmungstief holte.
Manchmal scheint die Sonne aus der unwahrscheinlichsten Richtung
Die tägliche Routine aus Arbeit, Ego und sozialer Verantwortung fühlten sich mal wieder an wie ein Hamsterrad. Ich wollte weg, doch ich konnte nicht weg. Fehlende finanzielle Mittel waren der Grund, ich hatte alles verzockt mit Pferdewetten und Hybris. Es galt also, zu Hause zu bleiben und den Mist auszusitzen. Ein besonders heikles Szenario, weil zudem ein Handwerker-Termin anstand.
Handwerker-Termine sind, wie jedes in Berlin lebende Wesen weiß, noch schwieriger zu organisieren als Behördentermine. Man muss in endlosen Warteschleifen versauern, sich von Hausverwaltungen demütigen lassen und am Ende dankbar dafür sein, wie ein Kloppi von 7 bis 17 Uhr zu Hause zu sitzen und auf das unsichtbare Gericht zu warten. Ein Trauerspiel. Persönlich ziehe ich es vor, in einer Wohnung mit komplett zerschossener Infrastruktur zu hausen, als mich dem auszusetzen. Aber meine Eltern kommen bald zu Besuch und sollen in den Genuss von elektrischem Licht und einer Klospülung kommen.
Handwerker-Termine sind, wie jedes in Berlin lebende Wesen weiß, noch schwieriger zu organisieren als Behördentermine.
Dann ist es also soweit: Auftritt des Elektrikers. Ein etwa 60jähriger Herr mit osteuropäischem Akzent. Sofortiger Pluspunkt, weil er die Lichtschalter vergessen hat, die er austauschen soll – eine fehlbare, zerstreute Natur wie ich also! Während er an ein paar offenen Stromleitungen herumfummelt, weil er schon einmal da ist, fällt sein Blick auf mein Klavier (gemietet) und das darauf liegende Notenheft.
„Ah, Sie spielen Chopin?“, fragt er.
„Wenn ich nüchtern bin meistens“, entgegne ich. „Spielen Sie auch?“
„Nein, aber ich bin Pole. Chopin ist bei uns sowas wie ein Heiliger.“
Es folgt eine Konversation über das Herz von Chopin, das nach seinem Tod von seiner Schwester in einem mit Cognac gefüllten Gefäß nach Warschau überführt wurde, wo man es noch heute bewundern kann. Der Elektriker hat dies längst getan. Auf meine Äußerung, dass ich gern ein Glas von diesem Cognac trinken würde, reagiert er irritiert. Sieht dann jedoch das Charles Bukowski-Plakat an meiner Schlafzimmertür und versteht mich scheinbar sofort.
An ihren Taten sollt ihr sie erkennen
Es folgt eine Feststellung weiterer Gemeinsamkeiten. Auf meine Eröffnung, dass ich ein Autogramm von Bukowski besitze und mit seiner Tochter befreundet bin, reagiert der Elektriker elektrisiert. Und erklärt mir, diese Arbeit sei nur sein Nebenjob. Hauptberuflich würde er lesen. Wir sind jetzt im Grunde soweit, uns gemeinsam die Kante zu geben. Was unprofessionell wäre. Stattdessen schenke ich ihm eins meiner eigenen Bücher, ohnehin ein viel respektvolleres Trinkgeld als schnöde Devisen.
Das ist schon die ganze Anekdote, mehr ist nicht passiert. Doch diese kurze Begegnung wappnet mich für mindestens viereinhalb Tage, in denen ich die Sauereien dieser Stadt ertragen kann, ohne mit der Wimper zu zucken. Manchmal braucht man eben nicht viel, um durchzuhalten. Beruhigend zu sehen, dass man sogar in Berlin tolle Menschen treffen kann. Natürlich hilft auch die Aussicht, dass der Elektriker nochmal kommen muss. Mal sehen, was er dann vergisst.