Wenn Krieg droht, muss man Champagner trinken

© Wiebke Jann

"Cool trotz Kind" ist für alle Eltern dort draußen. Autor Clint durchläuft dafür sämtliche Lebensentwürfe. Auf drei Jahre Kleinfamilie folgten vier Jahre Wechselmodell. Nun sieht er seine Tochter Wanda* nur noch am Wochenende. Ein Alltag zwischen Sehnsucht und Großstadt-Exzessen. Dies ist vorerst die letzte Folge. Im Juli geht's weiter.

Das Flugzeug rollt auf die Startbahn, beschleunigt. Als wir abheben, fährt eine heftige Bö unter die Tragflächen, katapultiert uns geradezu in den Himmel. Mein Magen bockt, die Gesichtsfarbe meiner Tochter lässt auf eine ähnliche Reaktion schließen. Trotzdem wirft sie vor Begeisterung die Arme in die Luft. Eine Durchsage des Bordpersonals informiert uns darüber, dass es wegen der Turbulenzen keinen gastronomischen Service geben wird.

Ein solcher Ausnahmeflug passt gut zur gerade herrschenden Endzeitstimmung. Verheerende Stürme, ein drohender Krieg in Europa, während man nach zwei Jahren Pandemie sowieso schon nah am Wasser gebaut ist. Wie immer, wenn alles in die Binsen zu gehen scheint, frage ich mich, warum ich meinem Kind das Wunder der Geburt zugemutet habe. Und wie ich bei alldem noch Zuversicht ausstrahlen soll.

Wie immer, wenn alles in die Binsen zu gehen scheint, frage ich mich, warum ich meinem Kind das Wunder der Geburt zugemutet habe.

Die Lösung für eine derart aussichtslose Lage: Man fliegt nach Paris, in die Hauptstadt der Hedonistinnen und Hedonisten. So ein Ausflug ist auch nicht einfach, für die Einreise sind komplizierte Formulare erforderlich, dazu 3G-Nachweise und eidesstattliche Erklärungen, dass man symptomfrei ist. Doch als wir am Charles de Gaulle ankommen, will kein Mensch etwas davon sehen. Überhaupt wirkt die französische Bevölkerung, als würden sie ziemlich entspannt mit der Pandemie umgehen. Geht jemand maskenlos, löst das im direkten Umfeld keinerlei hysterische Anfälle aus.

Nachdem wir unsere Unterkunft bezogen haben, stürzen wir uns sofort ins Getümmel. Wanda* will eine Schifffahrt auf der Seine machen, ich das Balzac-Haus besuchen, um für meinen größenwahnsinnigen Blog zu recherchieren. Während sie mir vom Schiff aus jauchzend Paläste und vergoldete Engel zeigt, blättere ich im gerade erstandenen heraldischen Verzeichnis der etwa 2.500 Figuren der „Menschlichen Komödie“.

„Was machst du da, Papa?“

„Ich lese doch gerade diese vielen Bücher.“

„Die blauen?“

„Genau. Blaue Bücher sind immer die besten. Und das ist sowas wie die Gebrauchsanweisung.“

Treppensteigen gegen die Angst

Am nächsten Tag erreicht der Sturm auch unseren Zufluchtsort. Der Aufstieg auf den Eiffelturm ist wegen Lebensgefahr nur bis zur zweiten Plattform möglich. Wir wagen es trotzdem. Der Regen kommt waagrecht, nach tausend Stufen höre ich auf zu zählen. Immerhin bewirkt die Anstrengung, dass ich nicht an den Truppenaufmarsch in Russland denken muss.

„Können wir durch ein Fernrohr schauen?“, bettelt Wanda. Ich werfe zwei Euro ein. „Schau mal!“, ruft sie. „Man sieht von hier oben bis nach Berlin!“

„Du hast recht“, nicke ich und bestätige ihr, dass die Kuppel von Sacré-Cœur der Berliner Dom ist.

Zum Mittagessen fahren wir ins noble Le Train Bleu im Gare de Lyon. Der Sturm scheint den Bahnverkehr lahmgelegt zu haben, überall drängen sich gestrandete Reisende. Dieses Bild erinnert wieder an die Bedrohung. In Kriegszeiten sieht es an Bahnhöfen bestimmt immer so aus. Sollte es einen großen Konflikt mit vielen Beteiligten geben, wird Wanda schon ein Teenager sein, wenn wieder Frieden herrscht.

Krise ist erst, wenn es keine Pastete mehr gibt

Zum Glück befinden wir uns unter französischen Reisenden. Selbst in der Krise bewahren sie ihre Nonchalance. Jeder Platz im Le Train Bleu ist besetzt, viele Gäste haben sich kurzerhand auf ihre Koffer gesetzt und nehmen dort Entenpastete und Rotwein zu sich. Als sie das Kind an meiner Seite sehen, räumen zwei wie Banker gekleidete Männer ihre Plätze für uns. Findige Kellner servieren saftige Tranchen der Lammkeule, Jakobsmuscheln, Crêpe Suzette.

„Können wir für immer hierbleiben?“, will Wanda wissen.

„Das wäre schön“, sage ich und denke: Weiter weg von der Front.

Doch dann verscheuche ich die trüben Gedanken. Bestelle noch eine Flasche Sprudelwasser und Champagner und Armagnac für mich. Eigentlich kann die Welt nur in Ordnung sein, wenn an den Nachbartischen Französisch gesprochen wird. Wanda blickt sich staunend in den barocken Räumen um. Vielleicht muss man es einfach so tun wie sie. Sich an dem erfreuen, was ist. Und nicht das fürchten, was sein könnte.

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