Kinder können nicht scheitern

© Wiebke Jann

"Cool trotz Kind" ist für alle Eltern dort draußen. Autor Clint durchläuft dafür sämtliche Lebensentwürfe. Auf drei Jahre Kleinfamilie folgten vier Jahre Wechselmodell. Inzwischen hat er eine Freundin, die selbst Mutter ist. Dabei war er immer zufrieden, mit seiner Tochter Wanda* nur ein Einzelkind zu haben. Doch Zeiten ändern sich. Clint findet man auch bei Instagram.

Letzte Woche rief meine Tochter an. Tränenüberströmt erschien ihr kleines Gesicht auf meinem Smartphone-Bildschirm. Es dauerte eine Weile, ehe ich die Ursache ihrer Traurigkeit erfuhr. Sie hatte keine Lust, Geige zu üben. Als ich meinte, dass sie das Üben in dem Fall doch einfach bleiben lassen soll, fing sie erst richtig an zu schluchzen.

„Aber man muss üben!“, rief sie. „Wenn man ein Instrument spielen will, muss man jeden Tag ein paar Stunden üben!“

„Aber ich spiele doch auch Klavier und übe nicht jeden Tag“, sagte ich.

Doch es kam nicht bei ihr an. Da wurde mir klar, dass sie möglicherweise eine fatale Eigenschaft von mir geerbt hat: Brennenden Ehrgeiz, gemischt mit Faulheit. Versteht sich von selbst, dass Wanda von niemandem zum Geigenspielen gezwungen wurde. Sie hat es sich selbst ausgesucht – und kämpft nun mit ihrer nicht vorhandenen Frustrationstoleranz.

Mit dem Scheitern muss man umgehen können

Mit acht Jahren ist es soweit, hat eine von Wandas Lehrerinnen neulich dazu gesagt. Dann stellen sich die Weichen für die Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit. Alle Anzeichen von Charakter, die bis dahin möglicherweise aufgeblitzt sind, waren nur Wetterleuchten. Erst mit acht geht es ans Eingemachte. Dann kommen die Selbstzweifel, die Suche nach einem Sinn, das volle Programm.

Ich kann mein Kind in diesem Konflikt sehr gut verstehen. Bei mir hat es auch lange gedauert, bis ich gelernt habe, mit dem Scheitern umzugehen, mit den zahllosen Absagen von Verlagen und Agenturen, die jeder schreibenden Person das Leben versauern. Inzwischen habe ich sogar die Gabe entwickelt, beim Öffnen der Antwortmails auf einen Blick das entscheidende Wort „leider“ ausfindig zu machen. Denn Lektoren und Lektorinnen bescheinigen am Anfang stets allerhand Talente und Qualitäten. Sie schreiben nicht:

„Sehr geehrter Herr, wir haben ihr sogenanntes „Manuskript“ geprüft, und empfehlen Ihnen dringend, eine Schreibtisch-Schublade damit auszulegen.“

Stattdessen loben sie Stil, Haltung der Hauptfigur, das erfrischende, weil nie zuvor dagewesene Thema. Und begründen die Absage dann mit einem Abstraktum, wie dem Verlagsprogramm oder der unsicheren Lage des Buchmarktes. Als Schreibschwein fühlt man sich dann wie ein Krebspatient, dem der Arzt lächelnd mitteilt: „Der Tumor ist gutartig, Sie sind insgesamt in körperlich bester Verfassung, doch leider werden Sie in fünfzehn Minuten sterben.“

Das Scheitern ist unvermeidlich, es gehört zum Leben des Menschen dazu. Sich davon nicht zerstören zu lassen, es stattdessen zu nutzen, um über sich selbst hinaus zu wachsen, ist ein Narrativ zahlloser Underdog-Geschichten, die wir so lieben. Das hole ich mir nochmal ins Gedächtnis zurück, als ich an diesem Wochenende den Rufen meiner Tochter ins Wohnzimmer folge. Wieder scheinen Wolken den Himmel zu verdunkeln.

Das Scheitern ist unvermeidlich, es gehört zum Leben des Menschen dazu. Sich davon nicht zerstören zu lassen, es stattdessen zu nutzen, um über sich selbst hinaus zu wachsen, ist ein Narrativ zahlloser Underdog-Geschichten, die wir so lieben.

„Was hast du denn?“, frage ich.

„Das geht einfach nicht!“, ruft sie und zerknüllt zornig das vor ihr liegende Blatt Papier. Sie ist gerade mit ihren Filzstiften zugange. Wortlos nimmt sie ein neues Blatt, macht einen einzelnen Strich und zerreißt es sofort wieder. Ihre Augen glänzen feucht.

„Ich will einen Regenbogen malen. Aber der Strich biegt sich immer in die falsche Richtung.“

„Soll ich dir helfen?“

„Nein, ich will das selbst machen! Aber ich kann's einfach nicht.“

Sie weint mit echter Verzweiflung. Da sind wir wieder bei der Frustrationstoleranz. Bis vor Kurzem habe ich noch die Hoffnung genährt, sie würde später mal keine Künstlerin werden. Weil ich weiß, wie grauenhaft diese Laufbahn ist. Doch offenbar kann ich mir diesen Wunsch abschminken. Und sollte froh sein, wenn sie wenigstens keine Schauspielerin werden will. Die sind nämlich wirklich auf Gedeih und Verderb der gnadenlosen Welt ausgeliefert. Statt sie mit diesen Betrachtungen zu belehren, nehme ich sie bei der Hand.

„Papa, wo gehen wir hin?“, will sie auf der Straße wissen.

„Du weißt doch, dass alle Menschen arbeiten gehen“, sage ich. „Um Geld zu verdienen.“

„Ja, weil sie Essen und Bücher kaufen müssen.“

„Ganz genau. Und die meisten machen das nicht gern, weil ihre Arbeit ganz schrecklich ist. Aber es gibt auch Ausnahmen.“

Ich gehe mit ihr zu meinem Künstlerfreund Anatol. Schon längst wollte ich ihn auf ein Bier in seiner Atelierwohnung besuchen. Nachdem ich die beiden vorgestellt habe, führt er sie herum. Mit großen Augen betrachtet sie die Leinwände, die zwei Meter lange Tischplatte, die er als Malpalette benutzt.

„Anatol ist Maler“, sage ich. „Von Beruf, weißt du? Aber auch er muss das jeden Tag machen, damit er so gut bleibt.“

„Künstler ist man vierundzwanzig Stunden am Tag“, ergänzt er. „Du hast niemals frei. Aber dafür drückst du der Welt deinen Stempel auf.“

Wanda nimmt unsere Erklärversuche mit Würde zur Kenntnis. Als wir am Abend wieder zu Hause sind, wirkt sie nachdenklich.

„Okay“, sagt sie dann. „Ich probier's morgen vielleicht nochmal. Ein Regenbogen ist doch gar nicht so schwer.“

Und damit hat sie die wichtigste Lektion schon gelernt. Egal, um was es geht, ums Geigespielen, ums Malen, ums Schreiben oder um was auch immer: Wenn man stürzt, steht man wieder auf, klopft sich den Staub von den Knien – und macht weiter.

* Name geändert

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