Es gibt 1000 wichtigere Themen für die Jugend als das Jugendwort des Jahres

© Devin Avery | Unsplash

Jugendliche hatten in den letzten Jahren wirklich genug auf dem Teller. Keine Treffen, keine Reisen, keine Schule – und nebenbei bricht die Welt auseinander. Unsere Jugend hat viele Opfer gebracht, ohne, dass wir sie je gefragt oder ihr großartig gedankt hätten. Stattdessen haben Medien junge Menschen auf Partys reduziert und schließlich komplett aus den Nachrichten gestrichen. Gab ja genügend Erwachsene, die regelmäßig auf globaler Bühne ordentlich verschissen haben. Jetzt ist die Jugend wieder da. Doch statt ihnen eine Plattform zu geben oder zu fragen, was sie sich für sich und ihre Zukunft wünschen, geht es um das Jugendwort 2022. Wen kümmert's?

Als ich jugendlich war, gab es das auch schon. Damals, 2008, erst noch von alten, weißen Männern bei Langenscheidt gekürt, um ihr Lexikon "100 Prozent Jugendsprache" zu bewerben. Heute wiederum lässt Langenscheidt das Internet abstimmen, um ihr Lexikon "100 Prozent Jugendsprache" zu vermarkten. Wurde das Jugendwort früher also ganz sicher nicht von Jugendlichen ausgewählt, wird es heute nur vielleicht nicht von Jugendlichen ausgewählt. Ich habe gerade abgestimmt, als 10- bis 15-Jähriger. Es hat mich komischerweise niemand daran erinnert, dass ich schon 28 bin.

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Schaut man sich die Hits der letzten Jahre mal so an, wird relativ schnell klar, dass so maximal "junggebliebene" Erwachsene sprechen, wenn sie über die Jugend reden. "Smombie" wurde 2015 zum Jugendwort gekürt, ein Kofferwort aus "Smartphone" und "Zombie". Ja, genau, ich sehe den wütenden Teenie-Punk schon vor mir, wie er seinem Kumpel auf der Bahnhofsmauer lautstark erklärt, was er von seinem überzogenen Handykonsum hält. Oder "Niveaulimbo", 2010, für sinnlose Gespräche. Ich kann euch versichern, der einzige Anlass, zu dem ich 2010 mit 16 die Worte "Niveau" oder "Limbo" in den Mund genommen habe, war, um den Partykeller meiner Eltern zu beschreiben.

Aber selbst, wenn man sich der aktuellen Top Ten besieht und mal annimmt, dass Jugendliche so sprechen, was ist das Besondere? Da wären zum Beispiel Bezeichnungen wie "Bro" und "Diggah", die es im Deutschrap, in Hamburg und im Allgemeinen schon seit Hunderten von Jahren gibt. Oder die Gaming-Begriffe "Gommemode" (unbesiegbarer Modus), "Smash" (etwas mit jemandem anfangen) oder "Sus" (verdächtig), die alle drei aus Spielen kommen und somit ja wohl gleichermaßen relevant und irrelevant für alle Altersgruppen sind. Oder gute, alte deutsche Dudenwörter wie "wild", "Macher" oder "bodenlos". Das sind keine Jugendworte, das sind einfach Worte.

Das Jugendwort ist nicht die Jugend

Sagen Jugendliche diese Worte? Absichtlich? Wer oder was ist eigentlich ein*e Jugendliche*r? Nutzen Jugendliche diese Worte vielleicht erst nachdem Reddit-Foren sie zu Jugendworten erkoren haben, siehe "Hurensohn" 2020? Ist das Jugendlichen vielleicht egal? Ist es Jugendlichen nicht auch egal, wie egal ich ihre angeblichen Worte finde? Was ist sinnloser, Jugendworte oder noch ein Text über Jugendworte? Am Ende wahrscheinlich alles. Dennoch ärgert es mich, dass eine PR-Aktion eines Verlagshauses von mittelalten Menschen genutzt wird, um mit dem Finger auf "die Jugend" zu zeigen und amüsiert zu glucksen, dass "die" ja auch "bodenlos" sagen. Wie unterhaltsam für die Babyboomer, diesen Bierbauch der deutschen demografischen Kurve.

Klar, gerade herrscht Krieg und Corona und klimatöser Ausnahmezustand, das muss abgebildet werden. Es gibt außerdem weltweite Studien zu Todesursachen, Drogen oder Sexualpraktiken. Der einzige Report zur Jugend aber, der mir einfällt, ist die Pisa-Studie und die spiegelt, wenn überhaupt, die Leistung, nicht die Gefühlswelt der Jugend. Wenn ich mir schon Gedanken mache, ob ich noch Kinder in die Welt setzen soll, wie erst sehen Kinder diese Welt denn dann? Was macht das mit ihnen, wenn Deutschland Panzer für den Gegenangriff liefert, wenn Atomkraftwerke wieder angeschaltet werden sollen und wenn die eigene Drangphase zwei Jahre lang strikt abgeschafft wurde? Lasst die Jugend dazu mal zu Wort kommen, dann wäre das auch wieder von Bedeutung. Stattdessen liest Susanne Daubner lustig die Tagesschau und das war es dann wieder mit der Jugend. Sus!

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