Lockdown-Lifehacks: Die Wahrheit kann keiner ertragen
Autor Clint war ein paar Monate weg vom Fenster. Doch er ist nicht untätig gewesen, sondern hat die Monate im Lockdown eifrig genutzt, um ein besserer Mensch zu werden. Und natürlich behält er seine Geheimnisse nicht für sich, sondern teilt sie mit euch: Die besten Lifehacks zur Selbstoptimierung in Zeiten des Lockdown.
„Und, wie findest du's? Sei ganz ehrlich“, sagt meine Bekannte, nachdem sie mir ihr Gedicht vorgelesen hat. Sie will es am nächsten Abend per Live-Stream bei einem Poetry Slam vortragen.
„Naja...“, ächze ich, denn es war schauderhaft. Sentimental und opportunistisch. Mit Sicherheit wird sie damit Erfolg haben. „Also mir hat es sehr gut gefallen.“
Du sollst nicht lügen
Du sollst nicht lügen. Aber wer bin ich, dass ausgerechnet meine Kritik von Bedeutung sein soll? Außerdem: Will meine Bekannte wirklich die Wahrheit wissen? Will das überhaupt irgend jemand? Im Sommer waren meine Eltern zu Besuch in Berlin. Wir haben ein gutes Verhältnis, aber nach 72 Stunden herrschte trotzdem Lagerkoller. Und in der leicht gereizten Stimmung hörte ich irgendwann meine Tochter:
„Oma Rosi? Mein Papa hat gesagt, dass du immer soviel redest und dass das anstrengend ist. Und es stimmt: Du redest wirklich total viel.“
Womit das Kind die reine Wahrheit sprach. Allerdings wurde diese nur bedingt freudig aufgenommen. Ist es also besser zu lügen? Missstände zu verschweigen?
Ein anderer Moment fällt mir ein. Es war zu einer Zeit, als man noch in Restaurants essen konnte. (Irre, ich weiß.) Das Essen im betreffenden Laden war gut, nur hatte ich einen besonders jovialen Kellner erwischt.
„Der Mann zieht Luft“, rief er, als mein Glas leer war. „In vino veritas, ich mach mir die Kehle nass“, als er den Nachschub brachte. So ging das den ganzen Abend.
„Hat's geschmeckt?“, wollte er am Schluss wissen. Ich bejahte. „Und sonst alles in Ordnung?“
„Naja, ich komm echt gern her“, hab ich geseufzt. Und ihm dann versucht durch die Blume zu sagen, dass mir der Service ohne seine Sprüche sogar noch besser gefallen würde. Er tat verständnisvoll, war jedoch sichtbar gekränkt.
Die Wahrheit schmeckt meistens nicht
Lügen können vor solchen Kränkungen schützen. Allerdings ändert sich dann auch nichts zum Besseren. Ich beschließe deshalb, es nochmal auszuprobieren. Denn wenn es etwas Gutes am Lockdown gibt, dann ist es die Möglichkeit, an sich selbst zu arbeiten. Eingefahrene Verhaltensmuster zu überdenken. Um dann als besserer Mensch in die neue Zeit nach der Pandemie zu starten. Ich werde einen Tag lang nur die Wahrheit sagen. Ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Mal sehen, wohin das führt.
„Speak english?“, werde ich gleich in der Frühe angesprochen, als meine Tochter und ich zur U-Bahn eilen. Die Frau trägt einen bunten Rock und hält mir ein beschriebenes Kärtchen hin, auf dem sie in Dickens'scher Manier ihre Lebensumstände beschreibt.
„Sure“, sage ich, statt weiterzugehen. Sie lächelt: „Two Euro, please.“
Noch auf dem Weg zur Arbeit, wohin ich meine Tochter mangels Schulbetreuung mitnehmen muss, klingelt mein Handy. An der Nummer erkenne ich, dass es ein Vater aus der Kita ist, in die meine Tochter noch bis vor kurzem gegangen ist. Meine Moral sinkt.
„Hey, na?“, kräht er fröhlich. „Wir haben uns überlegt, ob wir uns heute auf dem Spielplatz treffen sollen. Natürlich mit Abstand und allem. Aber ist doch sicher gut, wenn die kleinen Mäuse ein bisschen sozialen Kontakt halten können. Habt ihr Zeit?“
„Ja, klar“, sage ich und bin froh, dass er nicht wissen wollte, ob wir LUST haben. Natürlich könnte ich mich rausreden, indem ich auf Kontaktbeschränkung poche, aber das wäre doch allzu billig.
Ausreden zählen nicht
Mit leichten Bauchschmerzen nähere ich mich meinem Halbtagsjob. Der kritische Augenblick lässt nicht lang auf sich warten.
„Wie geht’s?“, fragt mein Chef. „Bist du wieder gesund?“
Woraufhin ich gestehen muss, dass meine Magenverstimmung am Vortag erfunden war.
„Tut mir leid“, sage ich. „Aber ich musste gestern unbedingt einen Text fertig kriegen. Heute ist mein Kind wieder da, wie du siehst, und da hab ich für sowas keinen Kopf.“
„Versteh ich total“, sagt er. „Deshalb hättest du doch nicht lügen müssen.“
Ich bin erleichtert. Es wäre auch zu niederschmetternd gewesen, wenn die Wahrheit immer nur Ärger nach sich ziehen würde. Nach Feierabend und bevor wir zu unserem Spielplatz-Date müssen, haben meine Tochter und ich zwei Stunden zur freien Verfügung. Kaum habe ich meinen Rechner hochgefahren, ruft ihre Mutter an, um zu besprechen, wie wir die nächsten Wochen angesichts geschlossener Schulen organisieren sollen. Nach zehn Minuten schweifen meine Gedanken ab.
„Ich muss noch ein bisschen was machen“, versuche ich das Gespräch galant zu beenden.
„Was denn? Schreiben?“
„Äh, nein... Civilization spielen.“ Besonders galant kommt das nicht rüber.
Beim Date auf dem Spielplatz, zu dem der Vater noch eine andere Familie eingeladen hat, halte ich mich von den anderen Eltern fern. Meine herzliche Art hat schon einmal dazu geführt, dass wir die Kita wechseln mussten. Es grenzt zwar an Schummeln, aber dass die Wahrheit in diesem Rahmen fehl am Platz ist, muss ich nicht erst ausprobieren. Ein Blatt vor dem Mund erscheint hilfreich. Ich trage es in Form einer FFP2-Maske.
„Bist du krank?“, fragt der Vater nach einer Weile
„Nein, nur sozial inkompatibel.“
Wenn man es darauf anlegt, sich vollständig zu isolieren, ist die Wahrheit im Alltag ein guter Begleiter.
Diese Antwort kommt mir seit Pandemie-Beginn sogar einleuchtend vor. Das ist doch sicher ein Problem, mit dem sich so mancher inzwischen auseinander setzen muss. Doch der Vater ist nur irritiert. Genau wie meine Mutter später am Telefon.
„Wir haben uns überlegt, dass wir euch wieder besuchen kommen, sobald es möglich ist!“, ruft sie begeistert.
Ich sage, dass wir da nichts überstürzen müssen. Eisiges Schweigen am anderen Ende der Leitung. Wenn man es darauf anlegt, sich vollständig zu isolieren, ist die Wahrheit im Alltag ein guter Begleiter. Auf jeden Fall hat man dank ihr genug Freiraum, um Civilization zu zocken.