Ganz Berlin knutscht wieder – und es fühlt sich wunderbar an!

© Marit Blossey

Ich sitze mit einer Freundin in einem Restaurant, um uns herum jede Menge Menschen, die genauso wie wir, wieder wie selbstverständlich an ihren Tischen sitzen, Essen bestellen, futtern, quatschen – und knutschen! Beim Umherblicken entdecke ich ein junges Pärchen, wie sie, über den Tisch gebeugt, ganz zaghaft Küsse austauschen. Es ist ein ungewohntes Bild. Ein sehr schönes Bild. Eines, das mir in den letzten Wochen häufiger begegnet ist, denn: In ganz Berlin wird wieder wild geknutscht.

Egal ob am Landwehrkanal auf den Bänken, in Bars am Tresen, im Restaurant über den Tisch gebeugt oder auf der Tanzfläche oder Toilette im Club, Berliner*innen haben über die lange Zeit, in der öffentliche Zuneigungsbekundungen ähnlich gern gesehen waren wie U-Bahn-Kontrolleur*innen, nichts verlernt. Gefühlt sehe ich mittlerweile endlich wieder mehr Menschen im wahren Leben knutschen als auf der großflächigen Plakatierung einschlägiger Dating-Apps. Und soll ich euch etwas verraten? Ich finde es großartig! Als hätte diese Stadt einen sehr späten Frühling hingelegt. Als hätten die zarten Annäherungsversuche des Sommers, in dem alle, die wollten ihre Impfung abgeholt haben, endlich dicke Knutschflecken bekommen.

Es ist nicht so, dass man in Berliner Clubs nicht schon sehr viel Wilderes als knutschende Teenager*innen gesehen hätte, aber diese zaghaften Küsse bringen uns auf ganz einfache und schöne Weise ein Stück Alltag zurück.

Das scheint aber kein reines Berlin-Phänomen zu sein, auch die New York Times berichtete vor einigen Wochen darüber, dass in New York überall geknutscht wird – und auf der ein oder anderen Reise fiel auch mir auf, dass das wohl auf viele Städte zuzutreffen scheint. Aber woran liegt das? Es ist ja nicht so, das man in Berliner Clubs nicht schon sehr viel Wilderes als knutschende Teenager*innen gesehen hätte – wieso fällt es einem jetzt also auf? Warum sieht man plötzlich überall knutschende Menschen, freut sich auch noch darüber?

Wir haben über eineinhalb Jahre auf Abstände geachtet, Mund-und-Nasen-Bedeckungen an allen möglichen Orten getragen – teilweise sogar auf öffentlichen Plätzen und Straßen – und in permanenter, wenn auch unterschwelliger Angst vor einer Covid-Infektion gelebt. Klar also, dass diese Maßnahmen einen Großteil der zwischenmenschlichen Zuneigung aus dem öffentlichen Leben verbannt haben – mit Maske knutscht es sich einfach nicht ganz so gut. Und wenn man bereits bei einem Händedruck missbilligend beäugt wird, wurde über spontane Knutschereien wohl lieber zweimal nachgedacht. Ich kenne inzwischen mehr Menschen, die während der Pandemie bei Regelverstößen erwischt wurden als jemals mit Drogen.

Maske runter, wir knutschen jetzt!

Selbst im Sommer, als die ersten Open Airs wieder stattfanden und man die Tanzfläche mit ganz leichten Babysteps wieder unsicher machen konnte, hat die Maskenpflicht auf Tanzflächen dafür gesorgt, dass spontane Knutschereien gar nicht mal so spontan waren.

"Kommst du mit mir an die Seite, um zu rauchen?"

"Ich rauche doch gar nicht."

"Ich weiß, aber ich dachte, wir knutschen vielleicht ein bisschen."

Es gibt sicher charmantere Wege, um sein Gegenüber dazu zu bringen, die Maske abzuziehen, dennoch habe ich einige Gespräche wie diese mitbekommen – und musste schmunzeln. Weil diese unbeholfenen Annäherungsversuche für das wilde Treiben in Berlin so ungewöhnlich sind. Weil es sich so wahnsinnig neu und aufregend anfühlt. Und weil der erste Kuss dann ja doch selten verbal angekündigt wird.

Mit diesen zurückhaltenden Schritten ist aber seit der Cluböffnung vor einigen Wochen endgültig Schluss, denn jetzt darf unter Einhaltung der 2G-Bedingungen in Clubs wieder fast so ausgelassen gefeiert und geflirtet werden wie früher – ohne Abstandsregelungen und vor allem ohne Maske. Und nachdem jetzt nur mehr Geimpfte und Genesene auf Berliner Tanzflächen miteinander knutschen dürfen, scheint Corona nicht mehr das Schlimmste zu sein, womit man sich in Berlins Clubs anstecken kann. Das ist auf eine seltsame und sicher nicht ganz ungefährliche Art, schön zu sehen, zeigt es doch, dass es eben doch einen Weg zurück in die alte Normalität gibt – wenn auch nur in einigen Bereichen.

© anthony delanoix | unsplash

Corona scheint nicht mehr das Schlimmste zu sein, womit sich Berliner*innen auf Tanzflächen anstecken können.

Alles neu macht der Herbst also? Als ich kürzlich nachts an den üblichen Feier-Hotspots vorbei spaziere, schaue ich mich um und entdecke erneut junge Pärchen, die sich eng umschlungen unter Laternen vergnügen, auf Parkbänken Händchen halten oder sich, auf ihren Gute-Nacht-Döner wartend, zwischen Leuchtstoffröhren und dem allgemeinen Gegröle der Menge küssen. Endlich darf nicht mehr nur auf den Plakatwänden von Dating-Apps wild geknutscht und geschmust werden, sondern auch im echten Leben. Mit echten Menschen. Ob langjährige Partner*innenschaft, junge Liebschaft oder spontane Bekanntschaft einer wilden Nacht, sie alle stolpern wieder über die Berliner Bühne – knutschend.

Während ich das Treiben im Vorbeigehen beobachte, merke ich, dass das kein neues Gefühl ist, sondern ein Stück der früheren Normalität, die endlich wieder Einzug in unseren Alltag erhält. Das habe ich, haben wir alle, vermutlich das letzte Mal vor Corona erlebt, dass sich wie selbstverständlich überall Körper aneinander schmiegen. Dieses Gefühl werde ich noch ein bisschen genießen – zumindest so lange, bis ich irgendwann vielleicht wieder genervt sein darf. Von knutschenden Paaren in Bus- und U-Bahntüren. Von Clubbekanntschaften, die eine gefühlte Ewigkeit die Toilette blockieren. Von Pärchen, die stundenlang die schönsten Sonnenbänke am Landwehrkanal besetzen.

Buch, Mit Vergnügen, Berlin für alle Lebenslagen
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