Die Bahn ist schuld, dass mein Kind weinen muss

© Wiebke Jann

„Cool trotz Kind“ ist für alle Eltern dort draußen. Autor Clint durchläuft dafür sämtliche Lebensentwürfe. Auf drei Jahre Kleinfamilie folgten vier Jahre Wechselmodell. Nun sieht er seine Tochter Wanda* nur noch am Wochenende. Ein Alltag zwischen Sehnsucht und Großstadt-Exzessen.

Seit zwei Monaten fahre ich jeden Freitag mit dem Zug nach Rostock, um mein Kind nach Berlin zu holen. Sonntags bringe ich sie wieder zurück. Egal wann und in welche Richtung, diese Züge sind immer brechend voll. Es gibt Ansagen des Zugpersonals, dass man die Corona-Abstände wegen Überfüllung ignorieren soll. Ich weiß nicht, warum die Bahn da nicht einfach mal einen Waggon zusätzlich anhängt.

Letztes Wochenende konnte ich Wanda aufgrund des dritten GDL-Streiks nicht holen. Dadurch sehe ich sie nun zwei Wochen lang nur per Videocall. An manchen Abenden weint sie, weil sie mich so vermisst. Nun wäre es freilich unsolidarisch, den Gewerkschaften die Schuld an dieser Misere zu geben. Ist ja nicht das Problem unserer tapferen Lokführer*innen, dass ich so eine dusselige Patchwork-Fernbeziehung mit meiner Tochter führe.

Der Bahnstreik kappt alle Verbindungen

Jedenfalls bin ich in den letzten Tagen ins Träumen geraten. Im Moment ist es für Wanda das Beste, auf dem Land zu leben. Ihre Tage spielen sich zwischen Maisfeld und Kirschbaum ab. Sie holt die Frühstückseier direkt aus dem Stall und schwimmt fast täglich im Meer.

Doch meine Hoffnung geht da hin, dass sie als Teenagerin zurück nach Berlin kommen will. Sagen wir in zehn oder elf Jahren. Dann hauen wir hier gemeinsam auf den Putz. Zumindest stelle ich mir das im Moment sehr schön vor, an den Abenden, an denen sie mir so fehlt. Bleibt mir ja sonst nichts anderes übrig.

Unsere Zukunft sehe ich in etwa so:

In zehn Jahren werde ich bestimmt in einer gerade noch bezahlbaren Wohnung in Magdeburg wohnen, das dann längst im Speckgürtel der Megacity Berlin liegt. Zum Glück wird Wanda ein Auto haben, sodass wir zum Brunch in den Wedding fahren können, der inzwischen endlich gekommen ist. Wer auf die Öffentlichen angewiesen ist, kann das nicht. Die S-Bahn fährt nicht, weil dem Bahnvorstand die Dividenden immer noch wichtiger sind, als die Löhne seiner Angestellten. Die BVG hat den Personentransport komplett eingestellt und verwendet all ihre Ressourcen für super-witzige Werbekampagnen.

Im Wedding angekommen werden Wanda und ich am gerade eröffneten Humboldthain-Zoo vorbeischlendern. Dort werden keine Tiere gezeigt, sondern täuschend echte Hologramme von Ur-Berliner*innen, die man schon von Weitem an ihrem Gemecker über die Zugezogenen erkennen kann.

Schöne neue Welt

„Das ist mein*e neue*r Freund*in“, wird Wanda sagen, und mir Bilder auf ihrem Smartphone zeigen. Ich werde murren, weil Väter das eben so tun.

„Und ist das nun ein Junge oder ein Mädchen?“, werde ich fragen.

„Oh, Papa. Hör endlich auf, in diesen idiotischen Geschlechterrollen zu denken! Das ist sowas von 2020!“

Während wir reden, rücken wir unsere rutschenden FFP2-Masken zurück auf die Nasen. Die Inzidenz ist zuletzt wieder auf über 15 gestiegen und wir wollen unseren Beitrag leisten, die Krankenhäuser nicht zu überlasten.

„Das ist echt nervig“, wird Wanda sagen. „Warum lassen die restlichen 30 Prozent sich nicht endlich impfen?“

„Die wollen noch abwarten, wie sich alles entwickelt.“

„Und warum bist du so dolle verkatert?“

„Weil Mit Vergnügen gestern seinen 22. Geburtstag gefeiert hat.“

Wanda wird theatralisch die Augen verdrehen, und mir damit zu verstehen geben, dass Alkohol auch total 2020 ist. Dabei leben wir in so freizügigen Zeiten, wie niemals zuvor. Sämtliche Drogen sind legalisiert worden. Sie sind unter den Jugendlichen zwar genauso verpönt wie Tabak und Koffein, aber THEORETISCH können alle tun, was sie wollen.

„Hey, Papa!“, wird Wanda dann rufen. „Hast du noch nie was von Mülltrennung gehört? Die Verpackung von deinem Eis besteht aus Polyethylen!“

„Ja, und?“

„Du hast sie gerade in die Tonne für Polypropylen geworfen. Kannst du mal endlich klarkommen auf dein Leben?“

Ich werde dann meiner Rolle als alter, weißer Mann gerecht werden und die Klimakrise relativieren. Wanda wird grimmig schauen, aber dann müssen wir beide lachen, weil wir diese Gespräche schon tausendmal geführt haben. Die Sonne wird scheinen und uns daran erinnern, dass wir schleunigst irgendwo einkehren sollten. Seit es keine Ozonschicht mehr gibt, ist es uncool, zu lange draußen zu bleiben.
Wir werden ins Gesundbrunnen-Center gehen und veganes Spaghettieis essen und noch ein wenig bummeln, bevor wir die lange Heimfahrt nach Magdeburg antreten müssen.

Buch, Mit Vergnügen, Berlin für alle Lebenslagen
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