Was ich aus der Krise lernen möchte – ein Brief an mein Zukunfts-Ich
Liebe Caro in einer undefinierbaren Zeit in der Zukunft,
ich bin’s, du. Dein Ich aus dem März 2020. Wie du dich vielleicht erinnerst, stecken wir gerade in einer ganz schönen Krise, ich hoffe, bei dir ist alles schon wieder etwas entspannter. Weißt du noch – ganz schön viele Menschen mussten um ihre finanzielle Existenz kämpfen, andere sogar um ihr Leben, und dir ging’s eigentlich ganz okay in deinem Home Office, oder? In den letzten Tagen hatte ich das Gefühl, ich könnte auch persönlich so einiges lernen aus der Krise – ich schreib’s dir auf, damit du später dran denkst!
Du fandest es ja schon immer ziemlich nice, wenn der Gemeinschaftssinn in uns rauskommt, wenn jeder auch mal für den anderen kämpft und nicht nur für sich selbst. Das klappt gerade ganz gut. Muss ja auch. Sind die Menschen bei dir immer noch so emphatisch und hilfsbereit? Hast du immer noch so viel Verständnis für die Probleme anderer, auch wenn du sie nicht am eigenen Leib nachvollziehen kannst? Versuchst du immer noch mehr Optimismus als Negativität zu versprühen? Ich hoffe doch.
Hier, in unserer Ausnahmesituation, ist es nämlich auf einmal ok, überfordert zu sein oder Angst zu haben.
Dabei musst du dir aber nicht so einen Stress machen, merke ich gerade. Hier, in unserer Ausnahmesituation, ist es nämlich auf einmal ok, überfordert zu sein oder Angst zu haben. Weil der Gegner – das Coronavirus, du erinnerst dich – so übermenschlich und unbesiegbar scheint. Da akzeptiere ich die eigenen Sorgen und versuche eher mir gut zuzureden statt mich unter Druck zu setzen. Ich finde, das könntest du im Alltag auch mal machen. Auch wenn du nicht gerade von einer globalen Pandemie bedroht wirst.
Sprechen wir über meine – deine – Privilegien. Und da geht’s schon bei den Basics los. Normalerweise kann ich rausgehen, wann ich will, hab keine Angst und fühle mich sicher in diesem Land, kann alle meine Grundbedürfnisse befriedigen. Erst jetzt, wo zum ersten Mal in meinem Leben an diesen Privilegien gekratzt wird, merke ich so richtig, wie wichtig sie mir sind. Ich hoffe, du hast all diese Privilegien immer noch und du weißt sie zu schätzen.
Vielleicht schaffst du es, deine Privilegien noch mehr zu schätzen. Und sie als Grund zu nehmen, dir nicht immer so viele unnötige Sorgen zu machen.
Erinnerst du dich noch an den USA-Trip letztes Jahr? An die Brasilianerin, mit der du dich unterhalten hast? Sie war erstaunt, dass du nachts einfach so allein durch die Straßen laufen kannst und du hast dich gewundert, dass es für sie normal ist, Waffen auf der Straße zu sehen. Das war ein Moment, in dem du so richtig begriffen hast, wie groß deine Privilegien sind. Ein Moment, der schnell wieder verstrichen ist. Ich muss dir was gestehen – ich weiß zwar über all das Bescheid, aber so richtig bewusst mache ich es mir viel zu selten. Vielleicht schaffst du es, deine Privilegien noch mehr zu schätzen. Und sie als Grund zu nehmen, dir nicht immer so viele unnötige Sorgen zu machen. Sondern dich an ihnen zu erfreuen.
Du hast ja noch viel mehr Privilegien, an denen du dich erfreust. Hoffentlich gehst du wieder ins Kino, ins Theater, in die vielen schönen kleinen Läden in Köln und hoffentlich trinkst du gerade irgendwo ein Kölsch. Hoffentlich erinnerst du dich aber auch daran, dass das alles nicht selbstverständlich ist. Dass unser wunderbares Leben Engagement und Zusammenhalt fordert und dass wir unsere Gesellschaft jeden Tag mitgestalten. Ja, das klingt jetzt erstmal nach großen Worten. Ich will keinen Druck bei dir aufbauen – du musst deshalb nicht alles perfekt machen. Im Gegenteil – geh mit dir und anderen ein bisschen entspannter um, lass Fünf auch mal gerade sein und konzentrier dich auf die wichtigen Dinge im Leben – so platt es auch klingen mag.
Ich glaube, Optimismus ist die einzig erträgliche Lebenseinstellung für uns beide.
Eins gefällt mir übrigens richtig gut: Optimismus. Den hast du dir hoffentlich bewahrt? Ich glaube, Optimismus ist die einzig erträgliche Lebenseinstellung für uns beide. Denn wenn nicht irgendwer gerade immer wieder „Wir schaffen das“ in meinem Kopf murmeln würde – Moment, Angie, bist du das? – wüsste ich gar nicht, wieso ich es überhaupt versuchen sollte. Du bist schon ganz schön oft über so einen „Es kommt sowieso anders, als man denkt“-Moment gestolpert. Nun lass dir eins gesagt sein: Es kommt wirklich anders. Vor drei Monaten hätte ich in keiner Sekunde erwartet, was gerade abgeht. Das könnte jetzt ganz schön beunruhigend sein, aber vielleicht macht es alles auch etwas einfacher. Du weißt eh nicht, was passiert, also versuch es auch nicht, zu kontrollieren.
Das war’s erstmal. Vielleicht schreibe ich dir noch einen Brief, denn die Erlebnisse, die man gerade so macht, sind wirklich ungewöhnlich.
Bis hoffentlich ganz bald,
Deine Caro