Kein Vergessen: Warum ihr heute Stolpersteine putzen solltet
Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 ist wohl einer der dunkelsten Momente der deutschen Geschichte: Mehr als 1.000 Synagogen und tausende jüdische Geschäfte wurden überfallen und zerstört. 400 Juden*Jüdinnen wurden allein in dieser Nacht ermordet. Jährlich gibt es am 9. November Gedenkveranstaltungen – in Erinnerung an die Novemberpogrome und im Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus, die in den Folgejahren bis 1945 deportiert, gefoltert und getötet wurden. Der 9. November ist somit, neben dem Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar, einer der bedeutendsten Gedenktage unseres Landes.
Warum gerade dieses Datum so wichtig ist? Unter Historiker*innen gelten die Novemberpogrome als entscheidender Scheitelpunkt in der Verfolgung der jüdischen Gemeinde unter der NS-Diktatur. Sie markieren den Übergang von Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung hin zur offenen, gewaltvollen Verfolgung, die schließlich im industriell betriebenen Völkermord an sechs Millionen Juden*Jüdinnen und weiteren Bevölkerungsgruppen mündete. Und gerade das ist etwas, das wir auch im Jahr 2022 auf keinen Fall vergessen sollten.
Kein Vergessen – nicht nur am 9. November
Kleiner Reminder: Es ist genau drei Jahre und einen Monat her, dass bei einem rechtsextremistisch motivierten Anschlag auf eine Synagoge in Halle zwei Menschen getötet und drei weitere schwer verletzt wurden. Im Mai 2020 wurden in München die Fenster eines israelischen Restaurants eingeschlagen. Im August im gleichen Jahr wurde in Berlin ein Brandanschlag auf die Kiezkneipe eines jüdischen Besitzers verübt. Auch in diesem Jahr werden Juden*Jüdinnen auf offener Straße beleidigt oder angegriffen. Ariel Kirzon war mit seinem 13-jährigen Sohn Levy auf dem Weg zum Arzt, am helllichten Tag in Berlin-Mariendorf, als er von einem Mann als "schrecklicher Scheißjude" beschimpft wurde. Der Wikipedia-Eintrag mit dem Titel "Liste von Anschlägen auf Juden und jüdische Einrichtungen im deutschsprachigen Raum nach 1945" ist viel, viel, viel zu lang. Und auch die Zahlen bestätigen den Verdacht, dass die Anzahl von Anschläge auf Juden*Jüdinnen gestiegen ist. Im Jahr 2020 gab es 2.351 antisemitisch motivierte Straftaten. 2021 waren es 3.027. Das ist ein neuer, trauriger Höchststand.
Deshalb ist es wichtig, dass wir den Opfern des Holocaust nicht nur am Tag der Auschwitzbefreiung oder eben heute, am 9. November, gedenken, sondern auch an jedem anderen Tag nicht vergessen, was passiert, wenn wir nichts gegen die Verbreitung von antisemitischem Hass unternehmen. Etwas, das uns tatsächlich immer wieder daran erinnert, weil es auf unseren täglichen Wegen immer wieder auftaucht, sind die Stolpersteine. Die in den Boden eingelassenen Messingtafeln erinnern an die Opfer des NS-Regimes; meistens dort, wo die Opfer zuletzt freiwillig gewohnt haben, bevor sie deportiert, vertrieben oder ermordet wurden.
Der Wikipedia-Eintrag mit dem Titel "Liste von Anschlägen auf Juden und jüdische Einrichtungen im deutschsprachigen Raum nach 1945" ist viel, viel, viel zu lang.
Das Projekt der "Stolpersteine" wurde 1992 von dem Künstler Gunter Demnig ins Leben gerufen: Er wollte so den NS-Opfern, die in den Konzentrationslagern nicht mehr als eine Nummer waren, ihre Namen zurückgeben. Ihre Namen, Geburts- und Todesdaten, die Daten ihrer Deportation und oft auch zusätzliche Beschriftungen werden mit Hammer und Schlagbuchstaben von Hand in ein kleines Quadrat aus Messing geschlagen. Um die Texte auf den kleinen Tafeln lesen zu können, muss man sich oft ein wenig vorbeugen – eine symbolische Verbeugung vor den Opfern, wie Demnig erklärte.
Das größte Mahnmal der Welt
Mittlerweile gelten die Stolpersteine als das größte dezentrale Mahnmal der Welt und sind längst nicht mehr nur in Deutschland zu finden: In 25 europäischen Ländern wurden sie bis heute verlegt. Gunter Demnig selbst hat am 29. Dezember 2019 den 75.000sten Stein verlegt.
Früher wurde jeder Stein von Demnig nicht nur selbst verlegt, sondern auch eigenhändig hergestellt. Die Steine maschinell herzustellen, das kam für den Künstler nicht in Frage: Die Handarbeit soll einen Gegensatz zur maschinellen Menschenvernichtung in den Konzentrationslagern bilden. Da inzwischen europaweit tausende Steine verlegt wurden, lässt sich Demnig bei der Herstellung seit einigen Jahren von einem Bildhauer und seinen Mitarbeiter*innen unterstützen. Organisiert wird das Projekt mittlerweile von einer gemeinnützigen Stiftung. Privatpersonen und Angehörige, Verbände, Vereine oder Schulklassen – jede*r kann einen Stolperstein verlegen lassen. Auf der Website des Projekts findet ihr eine detaillierte Anleitung zu den Schritten, die dafür nötig sind.
How-to: Stolpersteine putzen
Ist euch schon mal aufgefallen, wie viele Stolpersteine in eurer Nachbarschaft liegen? Wenn man bedenkt, wie viele Menschen schon damals in diesen Gegenden lebten, fällt auf, wie unwahrscheinlich es ist, dass die Menschen im Umfeld der Opfer damals nicht bemerkt haben wollen, dass so viele ihrer Nachbar*innen auf einmal verschwinden – auch diese indirekte Botschaft ist übrigens von Demnig beabsichtigt.
Da das Messing der Stolpersteine mit der Zeit matt wird, wird jedes Jahr am 9. November dazu aufgerufen, die Steine in der eigenen Nachbarschaft zu putzen. Wenn ihr heute Nachmittag ein bisschen Zeit übrig habt, lässt sich das ziemlich gut mit einem kleinen Spaziergang verbinden.
Das braucht ihr
- Metall- oder Messingputzmittel (gibt's im Drogeriemarkt)
- Küchenschwamm
- Ein bisschen Wasser
So geht's:
- Eine kleine Menge Putzmittel auf den Schwamm geben (nicht direkt auf die Messingplatte!)
- Den Stolperstein mit der Reinigungsmilch einreiben, eine Minute antrocknen lassen.
- Messing mit dem Schwamm polieren, bis der Stolperstein wieder glänzt.
- Wenn der Stolperstein noch nicht ganz sauber ist: Schritt 1 bis 3 wiederholen.