Plötzlich Homeoffice: Wie ihr euch jetzt am besten neu organisiert, um effektiv zu bleiben

Jetzt, mitten in der Corona-Krise, sind viele Unternehmen quasi von heute auf morgen dazu gezwungen, konsequent und bedingungslos Home Office einzuführen. Das stellt viele von uns nicht nur vor organisatorische, sondern auch mentale Herausforderungen. Bettina Wittmann ist Expertin für Remote-Arbeit, hat sich schon lange vor der Corona-Krise intensiv mit dem Thema Home Office beschäftigt und weiß, welche Probleme jetzt auftreten können. Aber auch, wie wir die aktuelle Situation als Chance nutzen können, um unseren Arbeitsalltag agiler zu gestalten. Sie hat den Leitfaden "Plötzlich Home Office" entwickelt, der uns allen jetzt dabei helfen soll, in der Krise und darüber hinaus in der Heimarbeit zu bestehen. Wir haben mit ihr über Schwierigkeiten, Vorteile und ganz konkrete Tipps des Arbeitsmodells Home Office gesprochen.

Was glaubst du, wo derzeit die größten Schwierigkeiten liegen – sowohl für Arbeitnehmer*innen als auch Arbeitgeber*innen?

Wir befinden uns gerade in einer Ausnahmesituation, in der mehrere Komponenten aufeinander wirken. Einerseits müssen sich Arbeitnehmer*innen auf eine neue Infrastruktur einlassen und nicht jede*r ist tech-affin. Aber auch Arbeitgeber*innen treffen die Maßnahmen sehr unvorbereitet. Oft ist das technische Verständnis nicht vorhanden oder die Digitalisierung wurde bisher eher abgetan. Natürlich kommt das auch auf die jeweilige Branche an. Ich glaube, vielen ist aktuell noch gar nicht bewusst, wo die größten Herausforderungen auf sie warten, und dass/ob sie Unterstützung von einem*r externen Berater*in brauchen werden.

Welche Herausforderungen sind das genau?

Die ersten Fragen drehen sich meistens um Software-Empfehlungen oder Setup-Möglichkeiten, doch eine gute Teamführung ist bei Home Office viel mehr als das. Es verlangt nach einem flexibleren Mindset und klaren Strukturen sowie Arbeitsweisen, die durch die örtliche Trennung von Mitarbeiter*innen nicht mehr so einfach gegeben sind. Viele zwischenmenschliche Begegnungen passieren im gemeinsamen Büro einfach so nebenbei, jetzt müssen diese bewusst herbeigeführt werden. Das fängt beim kurzen Austausch an der Kaffeemaschine an und hört beim spontanen After Work Drink mit den Kolleg*innen auf. Außerdem stehen wir vor einer enormen wirtschaftlichen Herausforderung, da viele ihre eigentliche Tätigkeit nun nicht mehr ausüben können. Nun geht es darum, Strukturen und vielleicht sogar Rollen neu zu überdenken, ein neues System zu erschaffen, das mehr auf Vertrauen als auf Kontrolle aufbaut und sicherer für zukünftige Überraschungen ist.

© Bettina Wittmann

Wie kann das am besten gelingen?

Am besten ist es in der momentanen Lage, ein klärendes Gespräch mit dem gesamten Team zu suchen und zu verstehen, dass jetzt alle im selben Boot sitzen. Zusätzlich sollte eine Person beauftragt werden, die Umsetzungen zu leiten oder zu unterstützen, um Chaos zu vermeiden. Außerdem ist es wichtig, den Mitarbeiter*innen Vertrauen entgegenzubringen, sie zu motivieren und zu besprechen, wie Aufgaben von nun an umgesetzt und erfüllt werden können und welche Tools sich dafür eignen. Denn das variiert bei jeder Unternehmensart und -größe.

Du beschäftigst dich schon lange mit dem Thema Heimarbeit. Welche klaren Vorteile siehst du im Arbeitsmodell Home Office?

Für mich persönlich ist Home Office die beste Arbeitsform, weil es Unternehmen dazu zwingt, hierarchisch flacher zu denken, agiler zu sein und mehr darauf zu achten, dass es den Mitarbeiter*innen gut geht und deren Motivation hoch bleibt – sonst würde der oder die wahrscheinlich nicht seine Aufgaben erfüllen. Außerdem geht es weg vom Zeitmodell hin zur Leistungsmessung. Ich sage auch meinen Mitarbeiter*innen, dass es mir egal ist, wann etwas erledigt wird, es müssen jedoch Deadlines eingehalten und die Weiterarbeit eines anderen darf nicht behindert werden. Ich hab mir immer gedacht: "Warum soll ich '9-5' machen, wenn ich effizienter arbeite als andere? Ich würde lieber jetzt kurz rausgehen und später weitermachen – aber eben nur, wenn es nötig ist."

Warum soll ich "9 to 5" machen, wenn ich effizienter arbeite als andere? Ich würde lieber jetzt kurz rausgehen und später weitermachen – aber eben nur, wenn es nötig ist.
Bettina Wittmann

Also trägt das Home Office zur Effizienzsteigerung bei?

Die Umstrukturierung zum Home Office regt zur Infrastukturvereinfachung an, viele zeitfressende Bereiche können mit den richtigen Tools sogar automatisiert werden. Die Kosten- und Zeitersparnis  ist übrigens auch nicht zu verachten. Zum Beispiel müssen keine Büros angemietet werden, die besten Arbeitskräfte können weltweit rekrutiert werden und man verschwendet weniger Zeit für Arbeits- und Meetingwege sowie Meeting-Zeit. Dadurch können sich Mitarbeiter*innen auf die Dinge konzentrieren, die weniger monoton sind. Aber die Umsetzung hängt auch von der Technik ab. Mit schlechtem Internet oder einem alten Laptop arbeitet man auch ineffizienter.

Was denkst du: Ist Home Office für jede*n gemacht?

In meinem persönlichen Wertesystem sind Flexibilität und Freiheit sehr stark verankert. Natürlich weiß ich, dass manche Menschen mehr Struktur brauchen als andere und durch zu viel Freiheit unproduktiv werden können. Daher denke ich auch, dass Home Office nicht unbedingt für jede*n gemacht ist. Oder zumindest ist es für viele (erstmal) eine größere Herausforderung, weil sie einfach in einem anderen System aufgewachsen sind. Ich denke aber, dass durch ein "sich Bewusstmachen" der Vorteile und mit dem*r richtigen Arbeitgeber*in so gut wie jede*r besser im Home-Office-Modell funktioniert oder zumindest in einer Mischform. Natürlich müssen dafür die Resultate stimmen, was wiederum manche abschrecken mag, denn gute Leistung wird oft automatisch mit viel Stress assoziiert, was nicht der Fall sein muss.

© Bettina Wittmann

Welche Tools und Strukturen empfiehlst du zur Unterstützung von Kommunikationsabläufen? 

Man sollte sich am Anfang bewusst machen, dass Kommunikation anders stattfindet, wenn man asynchron oder örtlich getrennt arbeitet. In jedem Fall sollte aber klar definiert werden, welcher Kanal auf welche Art genutzt wird. Ist es eine Ankündigung, die alle betrifft? Wahrscheinlich macht hier eine E-Mail-Zusammenfassung Sinn. Ist es ein kurzer Check-In mit dem Team, um nach dem Status eines Projekts zu fragen? In dem Fall reicht eine kurze Nachricht im Firmenchat aus. Dafür nutzen wir zum Beispiel Slack. Möchtest du wichtige Details zum Projektablauf kommunizieren? Um etwas vorzuzeigen ist eine kurze Bildschirmaufnahme wahrscheinlich besser geeignet, die anschließend an andere weitergeleitet werden kann. Damit kann man sich zusätzlich eine Wissensdatenbank aufbauen, die jedes remote arbeitende Unternehmen haben sollte. Wenn dies nicht geregelt wird, lauft ihr Gefahr, dass Informationen verloren gehen oder der Aufwand für die einzelnen Mitarbeiter*innen vergrößert wird.

Wie führt man zum Beispiel einen guten Conference Call?

Wir bevorzugen dafür Zoom, da man bei Bedarf Meetings dort auch aufzeichnen kann. Wichtig ist es, je nach Meeting-Art, einen Meeting-Manager zu haben. Dies ist vor allem bei Team-Meetings relevant, bei denen mehrere Themen besprochen werden. Ansonsten kann es schnell passieren, dass alle durcheinander sprechen oder das 30-minütige Gespräch in ein zweistündiges ausufert. Handelt es sich um ein gemeinsames Essen, eine kurze Kaffeepause oder ähnliches, dann ist das natürlich nicht notwendig.

Wichtig ist, zu wissen, welcher Arbeitstyp man eigentlich ist. Darum herum sollte der Arbeitsplatz geplant werden.
Bettina Wittmann

Was lenkt beim Arbeiten eher ab? Was sollte man vermeiden?

Ich glaube, das ist bei jedem Menschen anders. Manche brauchen Stille, andere wiederum mögen das Gewusel von Menschen um sich herum. Es gibt sogar eine App, die die Hintergrundgeräusche eines Kaffeehauses imitiert. Daher sollte man sich gerade in der jetzigen Situation zuerst darüber Gedanken machen, welcher Typ man selbst ist: Wann hat man Motivationshochs? Abends, mittags oder morgens? Kann man diese nun in Home Office vielleicht sogar besser nutzen? Benötigt man völlige Ruhe? Mag man es hell oder lenkt einen die Aussicht am Fenster bloß ab? Ich denke, man kann die momentane Lage auch als Chance sehen, sein eigenes Verhalten und Vorlieben besser kennenzulernen, um dies zukünftig auch für seinen Vorteil nutzen zu können.

Wie wichtig ist es, sich einen richtigen Arbeitsplatz zu Hause einzurichten?

Sehr! Wobei auch dies von Person zu Person variieren kann. Ich brauche viel Abwechslung in meinem Alltag. Ich funktioniere meist meinen Esstisch zu einem Schreibtisch um und ändere auch gern mal den Ort dabei, wenn ich mich uninspiriert fühle. Das kann an Sonnentagen auch mal die Terrasse sein, die Couch oder das Bett. In Zeiten vor Corona habe ich auch in unregelmäßigen Abständen im Café oder bei einem Mitarbeiter gearbeitet. Wichtig ist, erstmal zu wissen, welcher Arbeitstyp man eigentlich ist. Darum herum sollte der Arbeitsplatz geplant werden. Braucht man Ruhe und hat ein eigenes Zimmer? Toll! Ist das auf Grund der Wohnsituation nicht möglich, sollte man klare Arbeitszeiten kommunizieren und auch so weit wie möglich einhalten. Ein Schild oder ein Symbol kann dem Umfeld auch signalisieren, das man jetzt nicht gestört werden möchte.

© weBOUND marketing

Wie oft sollte man Pausen machen?

Ich denke, dass man die Pausen einhalten sollte, wie man es aus seinem Job gewohnt ist. Eine beliebte und wahrscheinlich gesündere Methode ist die Pomodoro-Technik, bei der man ca. 25 Minuten hochproduktiv arbeitet um dann fünf Minuten Pause zu machen. Gerade im Home Office kann es passieren, dass man Pausen vergisst, weil man sich in einer Art Tunnel befindet. Daher würde ich einen Wecker verwenden oder das kostenlose Pomodoro-Tool. Noch wichtiger finde ich, dass man immer eine Flasche Wasser am Tisch hat, um genügend zu trinken, denn der Hunger meldet sich meist zumindest von allein noch vor dem Durst.

Drei Goldene Regeln, die jede*r im Home Office beachten sollte:

  1. Denk an deine Mitmenschen und geh mit gutem Beispiel voran!
    Denke an dein Team und die Abhängigkeit voneinander. Nur wenn du vorausschauend agierst und versuchst deine Arbeit zu systematisieren, kann eine Zusammenarbeit langfristig gut funktionieren und vielleicht sogar verbessert werden. Wenn du gerade in der jetzigen Situation die Füße auf die Couch legst oder chaotisch agierst, hilfst du weder dir noch anderen damit.
  2. Freiraum geben, Vertrauen schenken
    Viele Arbeitgeber*innen fragen jetzt nach Kontrollmöglichkeiten von Mitarbeiter*innen. Ich denke, es geht vor allem darum, Leistung durch individuelle Zielsetzung messbar zu machen und dem Team die Freiheit zu geben, dies nach eigenem Ermessen umzusetzen. Natürlich dürfen das richtige Projekt-Management-Tool und regelmäßige Check-Ins nicht fehlen.
  3. Flexible Systeme sind das A & O
    Auf jeden Fall sollte eine Wissensdatenbank aufgebaut werden, bei der alle Arbeitsprozesse definiert und zum Nachlesen festgehalten werden. Dadurch kann die Arbeitsqualität hoch gehalten werden, egal wer den Job von wo auch immer ausübt. Außerdem können Mitarbeiter*innen dadurch besser unabhängig voneinander arbeiten und es werden wiederholt aufkommende Fragen verringert, was auch das Management-Team entlastet.
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