Wer Tinder benutzt, ist genauso erbärmlich wie ich

© Clint Lukas

Zuerst denke ich: Das kannst du nicht machen. Du bist Schriftsteller, eine Person des öffentlichen Lebens. Unmöglich, sich dem Viehmarkt so ungefiltert zur Verfügung zu stellen. Dann denke ich: Ernsthaft? Mal ehrlich, who the fuck is Clint Lukas?

Also melde ich mich bei Tinder an. Die wichtigsten Lektionen lerne ich schnell. Offensichtlich waren ALLE Frauen schon mal in Macchu Picchu. Und auf der Brooklyn Bridge. Außerdem haben alle die gleichen Hobbys: Tauchen, Skilaufen, Klettern. Duckface-Bilder sind nicht aus der Mode. Im Gegenteil. Mit Meitu-Filter werden sie sogar noch schöner.

Auf jedem Profil: Macchu Picchu und Brooklyn Bridge

Ich gewöhne mich so schnell an die swipe left-Bewegung, dass ich mehrere Frauen wegwische, die ich toll finde. Und weg, weg, nein, nein, nei-… ah, fuck! Als ich zwischendurch vor die Tür gehe, um einzukaufen, fällt mir auf, dass ich innerlich alle Frauen bewerte. Die soziale Desintegration schreitet unaufhaltsam voran.

Ich gewöhne mich so schnell an die swipe left-Bewegung, dass ich mehrere Frauen wegwische, die ich toll finde.

An Tag 2 dann mein erstes Date. Tania, griechische Fotografin, lebt seit fünf Jahren in Berlin. Sie ist noch viel schöner als auf den Bildern. Wir verstehen uns gut, gehen zu mir, haben Sex, schlafen zusammen, verabreden uns sofort wieder. Ich mag sie. Folge deshalb meinem ersten Impuls und mache mich auf Tinder unsichtbar. Keine Ahnung, was ich will, oder was Tania will, aber wir werden es nicht herausfinden, wenn ich nebenbei andere Frauen date.

Als ich zwischen durch vor die Tür gehe, fällt mir auf, dass ich innerlich alle Frauen bewerte.

In der folgenden Woche schreiben wir uns ununterbrochen, treffen uns dreimal. Ich bin längst verknallt. Werde misstrauisch mir selbst gegenüber. Denn so läuft es immer. Ich lasse die emotionalen Zügel los, entwickle eine monogame Loyalität, nach der keiner gefragt hat, lade alles unnötig auf, um dann nach zwei Monaten Vollgas das Interesse zu verlieren. Damit Tania und ich eine Chance haben, muss ich mich also ein Stück weit detachen. Denke ich und melde mich wieder auf Tinder an. Natürlich sind die Verlockungen dieses Schlaraffenlands auch nicht unwesentlich.

Noch mehr daten, um sich vom ersten Date zu detachen

„Willst du ein Bier?“, frage ich die erste Erwählte, als wir uns auf dem Tempelhofer Feld treffen.
„Danke“, sagt sie. „Hab mein eigenes. Ich trinke nur Craft Beer, weißt du.“
„Ah. Okay.“
„Magst du Craft Beer?“
„Ooch, ja, hm…“
„Du magst es nicht, stimmt’s?“
„Doch, doch, ich trink eigentlich alles.“
„Wirklich?“, fragt sie enttäuscht. „Also mir ist das deutsche Reinheitsgebot einfach zu langweilig.“

Ich wechsle das Thema. Doch es läuft immer gleich. In Geschmacksfragen könnten wir nicht verschiedener sein. Und bei allen anderen Themen nimmt sie instinktiv die Position ein, die meiner entgegen steht.

„Du bist ein sehr ernster Mensch, oder?“, fragt sie irgendwann.
„Eigentlich nicht“, sag ich und denke: Ich mag dich nur nicht.
„Das liegt bestimmt an den Trennungen, von denen du erzählt hast“, fährt sie fort. „Hast du schon mal überlegt, eine Therapie zu machen?“
„Ich bin Schriftsteller. Ich mach sowas mit mir selbst aus.“

Hast du schon mal überlegt, eine Therapie zu machen?

Sie lächelt und schüttelt den Kopf, als wüssten wir beide, dass ich gerade etwas sehr Dummes gesagt habe.

„Was?“, ruf ich. „Denkst du echt, ich brauch ’ne Therapie, oder was?“
„Natürlich“, sagt sie und schaut mich fassungslos an. „Jeder Mensch braucht eine.“
„Was soll irgendein Eierkopf-Therapeut mir über mein Leben erzählen? Das ist MEIN Spezialgebiet.“
„Warum wirst du denn so laut?“
„Weil du mir grade das Gefühl gibst, schräg zu sein, weil ich NICHT der Meinung bin, dass jeder Mensch einen Psychiater braucht.“
„Alles gut. Beruhig dich erstmal. Ich erklär dir das, wenn ich von der Toilette zurück bin.“

Sie steht auf und legt mir vorm Weggehen tröstend die Hand auf die Schulter. Ich warte, bis sie im WC-Container verschwunden ist und stehe ebenfalls auf. Gehe gemächlich zum südlichen Rollfeld. Und renne dann los, als wäre der Teufel hinter mir her. Nicht besonders gentlemanlike, ich weiß. Aber wie ich auf Tinder gelernt habe: A gentleman is only a wolf that can wait.

A gentleman is only a wolf that can wait

Die Quittung für mein Verhalten krieg ich am nächsten Abend. Ich bin mit einer Victoria auf der Glogauer Brücke verabredet. Fünf Minuten nach der vereinbarten Zeit schreibt sie, dass sie gleich da sein wird. Ich beobachte die Frauen im Umkreis. Victorias Profilbild war nicht sehr eindeutig. Nicht, dass mir das Aussehen bei einer Frau besonders wichtig wäre. Aber hübsch soll sie schon sein.

Die Quittung

Irgendwann nähert sich eine Joggerin. Trainingsanzug, Laufschuhe, Ohrstöpsel. Selbst in diesem Outfit sieht sie atemberaubend aus. Da sie nicht langsamer wird, halte ich weiter nach Victoria Ausschau. Doch im letzten Moment bleibt sie neben mir stehen und pflückt sich einen der Stöpsel heraus.

„Bist du Clint von Tinder?“, fragt sie.
„Ja“, sag ich.

Sie nickt, steckt sich den Stöpsel wieder ins Ohr und läuft in die andere Richtung davon. Ein Pärchen in meiner Nähe hat die Interaktion mitgekriegt und wartet auf meinen move. Ich hebe die Hand zum Gruß. „Hi, ich bin Clint von Tinder“, sag ich und gehe dann schleunigst nach Hause.

Nicht, dass mir das Aussehen bei einer Frau besonders wichtig wäre. Aber hübsch soll sie schon sein.

Es mag hart erscheinen, geradezu technokratisch, aber eigentlich hat Victoria richtig gehandelt. Zumindest denke ich das, als ich ein paar Tage später mit Maja am Spreeufer sitze.

„Darf ich dir ein Kompliment machen?“, fragt sie irgendwann. „Wir unterhalten uns jetzt seit vier Stunden und du hast kein einziges Mal Mansplaining gemacht.“
„Ist das so ungewöhnlich?“
„Du hast ja keine Ahnung, was sonst für Männer rumlaufen. Und du hast mich auch nicht nach meiner Herkunft gefragt.“
„Hast doch gesagt, dass du aus Berlin kommst.“
„Ja, aber meine tunesische Mutter sieht man mir trotzdem an. Und dann fragen immer alle, wo ich EIGENTLICH herkomme. Wo meine Wurzeln liegen.“
„Verstehe“, sag ich. „Weil du so exotisch aussiehst.“

Wir müssen beide lachen. Es ist eine Schande. Maja ist mir wirklich sympathisch, und offenbar scheint sie auf mich zu stehen. Sie schaut mir andauernd tief in die Augen und dann auf meinen Mund. Aber bei mir funkt es einfach nicht. Ich schaffe es an diesem Abend, mich aus der Affäre zu ziehen, doch sie will mich unbedingt wieder sehen. Schreibt mir von nun an täglich. Leider bin ich nicht so forsch wie die Joggerin. Es fällt mir schwer, einem Menschen zu sagen, dass ich nicht auf ihn stehe.

Schluss machen müssen, obwohl es keine Beziehung gab

Endlich habe ich einen rettenden Einfall. Ich verabrede mich mit ihr auf einem Spielplatz und bringe meine Tochter mit. Maja weiß, dass ich Vater bin. Aber sie so früh mit meinem Kind zu konfrontieren ist trotzdem der ultimative Spoiler. Da wird sie sofort begreifen, dass die Sache für mich eher platonisch ist.

Es fällt mir schwer, einem Menschen zu sagen, dass ich nicht auf ihn stehe.

„Deine Tochter ist sooo süß“, schreibt sie mir am Abend danach. „Und hast du gesehen, dass sie mir zum Abschied eine Kusshand zugeworfen hat?“

Hab ich natürlich. Das kleine Biest. Normalerweise ist sie nie so schnell zutraulich.
„Ich weiß, ich sollte das noch nicht schreiben“, funkt Maja. „Aber das war wirklich besonders für mich. Danke, dass du mir soviel Vertrauen entgegen bringst.“

Mein Kind muss als Cockblocker herhalten

Okay, denke ich. Das ist ziemlich nach hinten losgegangen. Dieses Tinder wird langsam zum pain in the ass. Vielleicht sollte ich mich doch wieder unsichtbar machen. Leider habe ich noch ein letztes Treffen vereinbart. Mit Aida, einer persischen Lehrerin. Als sie mich kommen sieht, verzieht sie den Mund. Scheint kurz zu überlegen, ob sie weggehen soll. Überwindet sich dann und gibt mir die Hand.

„Und warum hat deine Ex-Freundin dich verlassen?“, fragt sie, während sie im Café so weit entfernt wie möglich Platz nimmt.
„Weil sie sich in einen anderen Mann verliebt hat.“

Aida holt ihr Smartphone heraus und vergleicht mein Tinder-Profilbild mit meiner realen Erscheinung.
„Du hast da am Kinn irgendwie mehr, oder?“
„Mehr Bart?“, frag ich.
„Nein. Es ist dicker.“

Sie holt ihr Smartphone heraus und vergleicht mein Profilbild mit meiner realen Erscheinung.

Sie nippt angewidert an ihrer Cola. Ihr Verhalten wirkt auch deshalb so merkwürdig, weil sie selbst bei einem Meter fünfzig auf über 90 Kilo kommt. Das Haar trägt sie matronenhaft auftoupiert, was ihr etwas Queen-Mom-haftes verleiht. Sie ist außerdem über vierzig und NICHT die Frau von ihrem Profilbild.

Tinder ist ein pain in the ass

Soviel also zu Tinder. Mir wird bewusst, was für ein unfassbares Glück ich mit meinem ersten Date hatte. Und dass ich mich auf die Art nicht von Tania detachen kann. Vielleicht ist das auch gar nicht nötig. Bei unserem nächsten Treffen erzähle ich ihr von meiner Misere. Und frage, ob wir nicht einfach akzeptieren sollen, dass wir nach so kurzer Zeit verliebt sind.

„Oh“, sagt Tania und küsst mich. „Aber ich bin nicht verliebt in dich. Und ehrlich gesagt, will ich auch keine Beziehung. Eigentlich ist es ganz schön, dass ich nebenbei andere Männer daten kann.“

Das habe ich nicht kommen sehen. Liegt vielleicht daran, dass ich ausschließlich mit mir selbst beschäftigt bin. Aber ich vermute, so läuft es immer, wenn man auf Tinder nach einer Beziehung sucht. Mit denen, die man toll findet, kommt nichts zustande. Und bei den anderen muss man das Arschloch sein, das Schluss macht. Obwohl man nie eine Beziehung hatte.

Mit denen, die man toll findet, kommt nichts zustande. Und bei den anderen muss man das Arschloch sein, das Schluss macht.
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