Warum sind in Berlin alle so spießig?

© Hella Wittenberg

Ich bin kein Berliner. Aber ich liebe Berlin. Inzwischen seit 13 Jahren. Und wie das bei einer langjährigen Beziehung so ist, gehen einem irgendwann die Macken des anderen auf die Nerven. Ich verstehe zum Beispiel nicht, warum hier immer alles so spät anfängt. Konzerte werden für 22 Uhr angesagt und beginnen dann mit viel Glück gegen halb zwölf. Das ist doch eine Verrohung der Sitten!

Oder die Clubs. Vor zwei Uhr nachts braucht man da gar nicht aufschlagen. Was dazu führt, dass man gezwungen ist, Drogen zu nehmen. Wie soll man denn bitte sonst so lange wach bleiben? Ich weiß schon, manche sind so clever und schlafen vor. Aber wie krampfig ist das denn? Sich um 18 Uhr hinzulegen, damit man morgens um 5 ins Sisyphos gehen kann? Wer sich den Wecker stellt, um Party zu machen, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.

Wer sich den Wecker stellt, um Party zu machen, hat die Kontrolle über sein Leben verloren

Mir ist klar, dass diese Beschwerde ein untrügliches Zeichen dafür ist, dass ich alt werde. Wird Zeit, sich auf den Elefantenfriedhof zurück zu ziehen. Aber bis dahin fände ich es schön, um acht auf ein Konzert zu gehen und im Anschluss gegen 11 ins Berghain. Vielleicht bleib ich trotzdem bis zum nächsten Nachmittag. Mal sehen. Aber wenn, dann weil ich es gern möchte. Und nicht, weil es Berliner Sitte ist, die Uhr jede Nacht um sechs Stunden zurück zu stellen.

Und noch etwas ist mir aufgefallen. In Berlin ist es unmöglich zu flirten. Flirten, kennt ihr das noch? Man sieht in der Bar eine Person, die einem gefällt, geht hin und spricht sie an. Wenn die Person einen sympathisch findet, entwickelt sich ein Gespräch. In dem Gespräch kann man auf spielerische Art heraus finden, ob und auf welche Weise man sich interessant findet. Und dann mal sehen.

In Berlin ist es unmöglich zu flirten

In Berlin scheint diese Form der Kontaktaufnahme komplett an Tinder und Okcupid ausgelagert worden zu sein. Alles ist klar abgesteckt. Wer einem gefällt, wird online ausgewählt. Man schaut sich in Ruhe die Bilder des Anderen an. Und dann trifft man sich zu einem Date. Entschieden wird dann nur noch, ob man was miteinander anfängt, oder eben nicht. Ein Date ist ein Date ist ein Date.

Ich kann den Vorwurf schon hören: Der Clint hat nicht gefickt, und jetzt macht er Berlin dafür verantwortlich. Lasse ich gerne so stehen. Dieses Thema brennt mir gerade nur deshalb so auf der Seele, weil ich neulich auf Lesereise war. Und es erfrischend fand festzustellen, dass man in Wien, München und Hamburg noch ganz unverkrampft kommunizieren kann. Im Gegensatz zu Berlin.

Ein Date ist ein Date ist ein Date

Ich flirte gern. Und ob ihr es glaubt oder nicht: Es geht dabei nicht zwangsläufig darum, die begehrte Person ins Bett zu kriegen. Klar kann das toll sein. Oft ist die Sehnsucht aber schöner als deren Erfüllung. Vor allem finde ich es wesentlich zwangloser, im Wirtshaus oder im Club ins Gespräch zu kommen. Ohne zu wissen, wohin es führt. Und ohne dass man die Begegnung vorher als Date deklarieren muss.

In Berlin geht das nicht. Wenn man hier eine Person anspricht, wird man angeschaut, als hätte man es ihrer Katze besorgt. Sollte doch mal ein Gespräch zustande kommen, wird dabei eindrucksvoll demonstriert, dass die parallel geführten acht Facebook-Konversationen mindestens genauso wichtig sind. Und selbst wenn sich beide Beteiligten attraktiv finden, muss man in Berlin immer abwägen: Ist diese Party überhaupt cool genug, dass ich jemanden von hier abschleppen kann?

Wenn sich beide Beteiligten attraktiv finden, muss man in Berlin immer abwägen: Ist diese Party überhaupt cool genug, dass ich jemanden von hier abschleppen kann?

Berlin ist kein Ort für Hedonisten

Ja, ich weiß, dass viele Männer sich wie Scheiße benehmen. Ich kann mir vorstellen, dass es nervt, am Abend 17 Mal angequatscht zu werden. Und selbst wenn dieses Anquatschen nicht in einer übergriffigen Form vonstatten geht, wird es in den seltensten Fällen charmant oder originell sein. Aber all diese unerfreulichen Begebenheiten gibt es in jeder Stadt.

Ich habe das Gefühl, dass hier alle so cool und abgebrüht sind, dass sie sich selbst lähmen. Immerhin reden wir über Berlin. Wo sich jeder Offenheit und Gelassenheit auf die Fahnen schreibt. Warum stehen hier Konzertbesucher dann mit verschränkten Armen auf der Tanzfläche? Und starren die Band an, als würden sie sie aus tiefstem Herzen hassen? Warum sind hier alle so verkrampft, als wären sie bei der Arbeit?

Macht euch mal wieder locker

Ich hätte es nie für möglich gehalten. Aber meine Rundreise durch andere Städte hat mir mal wieder vor Augen geführt, dass Berlin kein Ort für Hedonisten ist. Dafür sind hier alle viel zu pragmatisch und abgeklärt. Alles wird in den Dienst der eigenen street credibility gestellt. Vielleicht liegt es auch an der Reizüberflutung. Es gibt derart viele Möglichkeiten, dass jede Chance dankbar genutzt wird, eine dieser Möglichkeiten als NoGo abzuhaken.

Ich habe das Gefühl, dass hier alle so cool und abgebrüht sind, dass sie sich selbst lähmen.

Na, dann geh doch nach München oder Hamburg, wenn es dir hier nicht gefällt. Jaja, Arschlecken. Würde ich manchmal gern. Aber wie eingangs geschrieben: Ich liebe Berlin. Und nur wegen ein paar nerviger Macken trenne ich mich nicht gleich. Eine Beziehung ist harte Arbeit. Hat Konfuzius gesagt. Oder Bushido. Fällt mir gerade nicht ein. Deshalb dieser Aufruf mit der bescheidenen Bitte: Macht euch endlich mal wieder locker.

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