Ost, West und der Rest: Gibt es die Berliner Mauer noch in unseren Köpfen?

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Am heutigen Montag ist die Mauer ebenso lange Geschichte, wie sie einst bittere Realität war – auf den Tag genau 28 Jahre, zwei Monate und 27 Tage. Dennoch scheint sie in unseren Köpfen, den Köpfen unserer Eltern und Verwandten, Freunden und Bekannten weiterzubestehen. Und nicht nur dort, auch in den Nachrichten wird tagtäglich in "Ost" und "West" unterschieden, etwa wenn von Arbeitslosenzahlen, ungleichen Lohnniveaus und rechtsradikalen Tendenzen gesprochen oder wieder einmal der Solidaritätsbeitrag verhandelt wird.

Doch auch im Alltag scheint noch immer nicht zusammengewachsen zu sein, was eigentlich zusammen gehört. Das liegt an der mehr als 40-jährigen Teilung, an den nach der Wende gewachsenen Strukturen und nicht zuletzt an Stereotypen, an denen beharrlich festgehalten wird. Es ist ein eigentümlicher Mix aus Halbwahrheiten und Klischees, die sich mehr aus Gefühlen und subjektiven Wahrheiten speisen, denn aus Statistiken und objektiven Beobachtungen.

Als die Mauer fiel, war der größter Teil unserer Redaktion noch nicht geboren. Die Teilung Deutschlands in "Ost" und "West", in DDR und BRD haben wir folglich als Zeitzeugen nicht miterlebt. Man könnte meinen, wir wären "Einheitskinder" und verstehen uns auch als solche. Doch sind wir das wirklich? Drei unserer Redakteure, die aus dem Berliner Osten, dem Berliner Westen und aus Westdeutschland stammen, stellen sich dieser Frage. Hier sind ihre Antworten.

© Matze Hielscher

"Es gab keinen Grund, in den Westen zu fahren"

Max aus Mitte: Wenn ich sage, dass ich aus dem Osten komme, werde ich gerne belächelt. "Zu diesem Zeitpunkt hast du doch noch gar nicht gelebt", wird mir dann entgegengehalten. Doch spielt das eine Rolle? Ich wurde in bestehende Familienstrukturen geboren, die durch und durch im Osten sozialisiert waren. Ich kann mich an keinen Moment erinnern, da wir im Westen der Stadt unterwegs waren. Nicht, weil wir dort aus ideologischen Gründen nicht hingefahren wären, sondern weil es schlicht keinen Grund hierfür gab. Im Osten war ja schließlich alles vorhanden. Ich kann mich an einen bizarren Moment aus dem Geografie-Unterricht der siebenten Klasse erinnern. Damals sollten ich und meine Klassenkameraden einzeichnen, in welchem Bezirk wir leben. Herausgekommen ist eine Karte, in der man den Mauerverlauf hätte nachzeichnen können. Ich habe erst spät den Westteil Berlins für mich entdeckt – und damit eine ganz neue Stadt in der Stadt. Heute bin ich in beiden Teilen gleichermaßen unterwegs und genieße die Vielseitigkeit Berlins sehr. Was bleibt, ist die Grundtendenz zum Osten.

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"Ich sage heute immer noch 'Wir fahren jetzt in den Osten!'"

Daliah aus Eichkamp: Ich bin 1991 in einem Krankenhaus im "Westen" geboren. Meine gesamte Kindheit hat sich in Charlottenburg und im Eichkamp abgespielt. Hier bin ich aufgewachsen, bin zum Kindergarten, später zur Grundschule und anschließen zum Gymnasium gegangen. Hier habe ich schwimmen gelernt und bin zum Ballettunterricht gegangen. Alle meine Freunde lebten hier und auch meine Großeltern wohnten in einer Querstraße vom Ku'damm. Bis zum Jugendalter bestand Berlin für mich quasi nur aus den Postleitzahlen 10455, 10707 und 10629. Ob ich etwas vermisste? Nein. Den "Osten" kannte ich nur aus Erzählungen und Geschichtsbüchern, er war bei uns in der Familie nie präsent. Mit zunehmendem Alter hab ich mich dann über die Bezirksgrenze hinausgewagt, habe Mitte, Kreuzberg, Neukölln, Prenzlauer Berg und Co. entdeckt, war im "Osten" frühstücken und feiern – da gab es die besseren Clubs und die cooleren Cafés. Ich sage heute immer noch "Wir fahren jetzt in den Osten!", wenn ich von Mitte und Prenzlauer Berg und Friedrichshain spreche. Das hat sich irgendwie so eingebürgert und manchmal ärgert es mich etwas und ich korrigiere mich. Es gibt zwar keine Mauer mehr, Unterschiede gibt es dennoch. Aber ist das denn so schlimm?

© Stefan Turtzer 

"Bei uns war der Osten genauso eine Himmelsrichtung wie der Norden, der Süden und der Westen"

Wiebke aus der Pfalz: Ich bin zwei Jahre nach dem Mauerfall geboren und das auch noch im Südwesten Deutschlands, etwa 800 Kilometer von Berlin entfernt. Der Mauerfall hat mich aber nicht nur geografisch und zeitlich nicht berührt, sondern auch nicht im Alltag. Um ehrlich zu sein, hat der Mauerfall in meiner Kindheit eine ähnliche Relevanz gehabt, wie die 68er-Revolution: Er war Geschichte. Der einzige Moment, an den ich mich erinnere, ist, dass der Vater einer Freundin damals aus dem sogenannten "Osten" geflohen und dann in der Pfalz gelandet ist. Darüber gesprochen hat er nie, nachgefragt haben wir als Kinder aber auch nicht. In meinem Umfeld hatte die Wiedervereinigung einfach keine sonderlich große Relevanz, warum auch? Bei uns zu Hause war der Osten genauso eine Himmelsrichtung wie der Norden, der Süden und der Westen auch.

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