Die läppischste Fangemeinde der Welt steht auf der Fanmeile am Brandenburger Tor

© Clint Lukas

"Lasst uns jetzt nochmal alles geben, bevor es losgeht. Wir schicken unseren Jungs in Russland die geballte Energie! Seid ihr bereit? Wir machen jetzt das ISLAND-HUH! Aber statt Huh, machen wir SCHLAND. Kann’s losgehen?"

Für ein paar Sekunden zögert die Menge. Doch der Animator von 104.6 RTL hebt allen Ernstes die Arme zum Viking Chant. Und so hallt kurz darauf tausendfaches Klatschen über die Fanmeile, begleitet von halb-ironischen "Schland"-Rufen. Bei soviel Euphorie muss ich mir erstmal ein Bier holen.

Stimmung sieht anders aus

Ich kann mich noch gut an das Jahr 2006 in Berlin erinnern. Soweit ich weiß, ist in diesem Jahr der Public-Viewing-Trend entstanden. Bis dahin hat man die Spiele zu Hause oder in der Eckkneipe verfolgt. Doch plötzlich war es en vogue, dass selbst der kleinste Thai-Imbiss einen Flachbildschirm auf seine Terrasse karrt, damit noch im entlegensten Winkel Stadionatmosphäre aufkommt.

Ich mochte die Stimmung damals. Klar, die Deutschtümelei war mir suspekt. Aber es war irgendwie reizvoll, während eines Spiels durch die Stadt laufen zu können und praktisch ununterbrochen über den Spielstand informiert zu sein. Ich fand auch die allgemeine Aufregung plausibel. Immerhin war Deutschland der Austragungsort der WM und die Stadt überfüllt mit den Fußballverrückten aller Länder.

© Clint Lukas

Doch in den darauf folgenden Jahren ist das Phänomen schnell zur Routine geworden. Und es sind inzwischen längst nicht mehr nur die Europa- und Weltmeisterschaften, die den Mob auf die Straße treiben. Auch wenn Wladiwostok im Champions-League Viertelfinale auf die U17-Mannschaft von Bilbao trifft, rotten sich grundlos aufgekratzte Menschen vor den Lokalen zusammen und tun so, als ginge es um Leben und Tod.

Auch wenn Wladiwostok im Champions-League Viertelfinale auf die U17-Mannschaft von Bilbao trifft, rotten sich grundlos aufgekratzte Menschen vor den Lokalen zusammen und tun so, als ginge es um Leben und Tod.

"Was hast du denn dagegen, wenn die Leute gut drauf sind?", werde ich häufig gefragt. Das ist natürlich lächerlich. Denn die Leute sind nicht wirklich gut drauf. Die denken nur, sie müssten so tun. Wie an Silvester. Doch vor dem Spiel Deutschland gegen Schweden zeigt sich mal wieder, wie weit her es mit dem Enthusiasmus der "Fans" wirklich ist.

Nach der 0 : 1 Niederlage gegen Mexiko sieht es so aus, als würde die DFB-Elf in die Fußstapfen von Italien und Spanien treten, die zuletzt als amtierende Weltmeister in der Vorrunde ausgeschieden sind. Und schon auf dem Weg zur Fanmeile höre ich schwarz-rot-gold geschminkte Fatalisten über das bevorstehende Ende schwadronieren.

Als ich den Security-Check am Eingang Ebertstraße passiere, zeigt sich mir ein ernüchterndes Bild. Zwar stehen da ein paar Tausend Menschen vor dem Brandenburger Tor, doch sie wirken wie in Trance. Als hätte sie das reine Pflichtbewusstsein hierher getrieben. Wo ist denn da bitte der Kampfgeist?

© Clint Lukas

Nicht dass es mir sonderlich wichtig wäre, dass Deutschland gewinnt. Ich interessiere mich nicht mal für Fußball. Aber die anderen doch wohl schon. Warum reden sie sonst von nichts anderem? Warum hängen sie pünktlich zum WM-Beginn ihre Fähnchen auf den Balkon? Wenn sie dann nach einer einzigen Niederlage schon einknicken.

Es sind noch zwanzig Minuten bis Spielbeginn. Auf der Bühne reichen sich die Parvenüs von Big Brother und DSDS gegenseitig das Mikro weiter, versuchen mit ihren Hits gegen das allgegenwärtige Phlegma anzukämpfen. Schlagerqueen Annemarie Eilfeld greift richtig tief in die Trickkiste: "Herzlich Willkommen und vor allem herzlich willkommen an alle, die sich heute AUSZIEHEN möchten!"

Doch die Fangemeinde lässt sich nicht aus der Reserve locken. Der 104.6-Mann scheint langsam nervös zu werden. Ein letztes Mal vor dem Anpfiff versucht er mit dem Island-Jubel einen Sieger-Spirit zu mobilisieren, um ihn "unseren Jungs" nach Russland zu schicken. Warum denke ich bei dieser Floskel eigentlich immer an Stalingrad?

Warum muss ich bei "unsere Jungs in Russland" immer an Stalingrad denken?

Endlich tut sich was auf der Leinwand. Nach den ersten Angriffen der DFB-Burschen muss ich vom vielen Bier schon aufs Klo. Die Eingänge zum Tiergarten sind mit Bauzäunen versperrt, weshalb ich mich in eine Festung aus erstaunlich sauberen Dixie-Klos begebe. Hier treffe ich ausnahmsweise auf eine wirklich gutgelaunte Gruppe von Fans. Es sind Tschechen, die auf dem Boden sitzen und das Spiel aufgeregt auf einem Smartphone verfolgen.

© Clint Lukas

Plötzlich rasten sie aus und zeigen mir empört auf dem winzigen Bildschirm, wie eine Blutfontäne aus Sebastian Rudys Nase schießt. Ich bin kaum zurück vor der Leinwand, als Schweden mit 1 : 0 in Führung geht. Die Stimmung kühlt weiter ab. Viele kriegen nicht mal mehr mit, wie Neuer kurz vor der Halbzeit das zweite Gegentor verhindert, weil sie damit beschäftigt sind, zu den Ausgängen zu drängen.

Ich gehe hinterher, weil ich es nicht glauben kann. Doch tatsächlich verlassen mehrere Hundert Menschen die Fanmeile Richtung Holocaust-Denkmal. Ich nehme an, dass sind die Leute, die nach 2002 Brasilien-Trikots trugen und zwischen 2010 und 2012 Spanien zur größten Fußballnation der Welt erklärt haben. Bayern-Fans, aber selbstverständlich nur bei schönem Wetter.

Mehrere Hundert verlassen in der Halbzeit die Fanmeile

Die Reihen vor der Leinwand sind jetzt ziemlich ausgedünnt und auch der Himmel wird immer dunkler. Doch mit dem Ausgleichstreffer kurz nach der Pause kommt endlich ein bisschen Leben in den Abend. Liegt vielleicht daran, dass die wirklichen Fans nun unter sich sind. Obwohl es zu regnen anfängt, wird die Stimmung nun deutlich besser. Daran kann auch die Rote Karte für Boateng nichts ändern, oder dass Mario Gomez mal wieder in alter Tradition am leeren Tor vorbei schießt. Der Siegtreffer in der Nachspielzeit erscheint mir deshalb nur logisch. Die ganze Dynamik des Abend ist darauf hinausgelaufen.

Ich frage mich in diesem Moment nur, wo die Leute sind, die in der Halbzeit die Flinte ins Korn geworfen haben. Ob sie beim letzten Tor schon zuhause waren? Und danach nochmal nach draußen gegangen sind, um ihren Fan-Spirit zu demonstrieren. Vermutlich haben sie im Autokorso am penetrantesten gehupt.

© Annika Eilts

Ich kann jedenfalls gut verstehen, dass Toni Kross sich am Spielfeldrand über die mangelnde Loyalität der Fangemeinde beschwert. Und ich freue mich schon auf Mittwoch, wenn die Schönwetter-Fans wieder zum Brandenburger Tor pilgern. Auch ich werde dort sein, um zu beobachten, wie "unsere Jungs" sich schlagen. Und ich bin gespannt, wie die Leute bei einer Niederlage reagieren werden. Wahrscheinlich trinken sie erstmal ein Bier. Und holen dann wieder die Spanien-Fahnen aus ihrem Keller.

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