Darf man fremde Kinder eigentlich beschimpfen?

© Clint Lukas

Die Kolumne „Cool trotz Kind“ ist für alle Eltern da draußen. Und für die, die es werden wollen. Autor Clint erklärt, wie ihr auch mit Kind euer Gesicht wahren könnt. Vor euch und der Welt. In dieser Folge sagt er allen Bullies den Kampf an.

Am Sonntag war ich mit meiner Tochter im Mauerpark. Seit ein paar Monaten gibt es da eine Baustelle, an deren Holzzaun ein Glücksrad hängt. Mein Kind war davon ganz angetan. Während ich in der Nähe stand, um der sonntäglich auftretenden Band zuzuschauen, hat sie das Rad ein ums andere Mal angeschubst.

Irgendwann kommt ein Junge dazu, vielleicht drei Jahre älter als sie, also sechs. Auch er will sein Glück versuchen. Meine Tochter tritt artig zurück. Doch immer kurz bevor das Rad zum Stehen kommt und dem Jungen eine Botschaft mitteilen kann, schubst meine Tochter es wieder an. Ich behaupte mal, dass sie es nicht aus Bosheit tut. Sie versteht gar nicht den Sinn des Rades, will nur, dass es sich dreht. Der Junge wird jedoch immer ungehaltener, lauter, schlägt meiner Tochter irgendwann ziemlich grob die Hand weg.

Ein fremder Junge schlägt meine Tochter

Ich bin in meiner eigenen Kindheit oft von Bullies schikaniert worden. Das soll jetzt nicht allzu dramatisch klingen. Ich war kein klassisches Mobbing-Opfer, dafür waren die Attacken in Grundschule und Nachbarschaft zu harmlos. Trotzdem hat sich mir dauerhaft das Gefühl eingeprägt, dass ich machtlos bin gegen die Willkür der Anderen. Ich war zu schwach, um mich zu wehren. Und ich bin nie auf die Idee gekommen, meine Eltern um Hilfe zu bitten. Ich dachte vermutlich, dass die auch nicht eingreifen können, weil sie einer anderen Welt angehören.

Mir hat sich dauerhaft das Gefühl eingeprägt, dass ich machtlos bin gegen die Willkür der Anderen.

Das zog sich so durch meine Jugend. Irgendwie waren meine Freunde immer die Schwächlinge. Beim Fußball im Sportunterricht wurden wir als letzte gewählt. Und dann auf einen hanebüchenen Posten in der Abwehr gestellt, wo wir kläglich versagten. Eine sich wöchentlich wiederholende Tortur. Kein großes Drama. Aber es stimmte mich damals schon hoffnungslos, dass sogar die Sportlehrer von unserer Unfähigkeit abgeturnt waren. Offensichtlich mochten sie Kinder mit Fußball-Talent lieber.

Ich habe nie zur Clique der Coolen gehört. Seit ich 15 Jahre alt war, will ich das auch nicht mehr. Aber vielleicht nur, weil ich davor immer geschnitten worden bin. Und eingesehen habe, dass ich eben einfach nicht dazu gehören kann. Mein Platz in der sozialen Hierarchie war bei den Spinnern. Die ich auch nicht leiden konnte. Aber statt sie zu hänseln, hab ich mit ihnen gespielt. Gab ja sonst nichts zu tun.

Ich habe nie zur Clique der Coolen gehört

Dass soll alles gar nicht heldenhaft oder romantisch klingen. Ist es nicht. Mir fällt jedoch auch heute noch auf, dass alle Freunde, die ich kennen und lieben lerne, als Kinder zu den Losern gehört haben. Ich glaube, man erkennt sich da instinktiv. Wenn man sich gegen Widrigkeiten behaupten musste, ist man nun mal anders, als wenn einem alles in den Schoß gefallen ist. Underdogs sind mir lieber als Gewinnertypen.

Sorry für den Exkurs. Ist auch nicht so, dass ich dieses Thema ständig auf der Zunge spazieren trage, oder mich darüber definiere. Aber als dieser Junge im Mauerpark meine Tochter anfasst, kommen sofort die Erinnerungen. Und dieses Gefühl. Aus der Sicht einer Dreijährigen ist ein Sechsjähriger allmächtig. Wenn man zehn ist, sind 18-Jährige gottgleiche Wesen.

Aus der Sicht einer Dreijährigen ist ein Sechsjähriger allmächtig. Wenn man zehn ist, sind 18-Jährige gottgleiche Wesen.

Allerdings bin ich 33. Für mich sind sowohl Drei-, als auch 18-Jährige nichts anderes als Babys. Ich könnte hinüber gehen und die Kette durchbrechen. Der Drang ist stark. Ich würde gern zu dem Jungen gehen und ihm sagen, was er für ein kleiner Wichser ist. Und dass ich ihm die Beine breche, wenn er meine Tochter noch einmal anfasst. Und wenn er dann ankündigt, seine Eltern holen zu gehen, würde ich denen noch Schlimmeres androhen.

Jeder Feind meiner Tochter ist auch mein Feind

Versteht mich nicht falsch. Es geht hier nicht um Gerechtigkeit. Wer weiß schon, was richtig ist? Vielleicht weiß meine Tochter ganz genau, dass sie den Jungen mit ihrem Eingreifen zur Weißglut treibt. Ich fühle mich nicht auf der Seite der Guten. Ich stehe auf der Seite meiner Tochter. Jeder Feind von ihr ist auch mein Feind.

Ich würde gern zu dem Jungen gehen und ihm sagen, was er für ein kleiner Wichser ist.

Und dieser Junge war wirklich ein Scheusal. Ein blasiertes, verwöhntes Prenzlberg-Früchtchen. Man könnte die Sache auch objektiv sehen und sagen, dass ältere Kinder immer auf jüngere Kinder Rücksicht nehmen müssen. Wen interessiert bitte so ein Scheiß-Glücksrad? Lass die Kleine halt drehen, wenn sie will. Werd erwachsen!

Doch die Moral der Geschichte ist: Ich hab gar nichts gemacht. Vielleicht weil die Grobheit des Jungen kein kritisches Maß überschritten hat. Vielleicht weil ich denke, dass meine Tochter sich auch in der Kita gegen ältere Kinder durchsetzen muss. Vielleicht bin ich aber einfach in alte Verhaltensmuster zurück gefallen. Denn gegen Bullies kann man langfristig nichts ausrichten. Es wird sie immer geben.

Underdogs sind mir lieber als Gewinnertypen

Als ich meine Tochter später gefragt habe, ob der Junge gemein zu ihr war, wusste sie nicht einmal, welchen Jungen ich meine. Scheinbar ist der Zwischenfall einfach an ihr abgeperlt. Gut möglich, dass ich viel zu viel hinein interpretiere. Aber ich werde dieses Phänomen weiter im Auge behalten. Und meiner Tochter immerzu beistehen. Aber vor allem will ich ihr eine entscheidende Wahrheit mit auf den Weg geben: Es ist nicht schön, gehänselt zu werden. Aber es ist tausendmal besser, als einer von den Bullies zu sein. Take that, motherfucker.

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