Zwei Stunden flanieren im Märkischen Viertel

© Kerstin Musl

"Steig ein! Steig ein! Ich will dir was zeigen. Der Platz an dem sich meine Leute rumtreiben: Hohe Häuser – dicke Luft – ein paar Bäume – Menschen auf Drogen – hier platzen Träume!", singt Sido in seinem umstrittenden Song "Mein Block" über das Märkische Viertel. Und genau dieser Text begleitet mich die 33-minütige S-Bahn-Fahrt in den Norden. In Wittenau angekommen, steige ich in den Bus, der mich ein paar Haltestellen weiter  am Märkischen Zentrum aussteigen lässt. Hinter mir ist ein Park, auf der anderen Straßenseite ein riesiges Einkaufszentrum. Ich will mitten rein in den Trubel, den Sido im Song verspricht, also überquere ich die Straße und betrete das Shoppingparadies.

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Die Einaufspassage ist tatsächlich ziemlich groß und weitläufig und es scheint so, als wäre das der zentrale Treffpunkt aller Bewohner. Hier trifft man sich auf einen Kaffee, hier shoppt man seine Tagescreme, Batterien und seinen Kühlschrankinhalt. Ich schlendere so vor mich hin und beobachte die Leute. Bis jetzt habe ich noch keine "Menschen auf Drogen" entdeckt. Aber ich halte weiterhin Ausschau. Ich mache einen kurzen Abstecher auf das Parkdeck, um mir mal einen ersten Überblick zu verschaffen. Danach geht's raus in den Park. 

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Im Packereigraben trifft Jung auf Alt. Die jungen Leute sind am skaten und die älteren Leute bringen ihre Einkäufe vom Shoppingcenter nach Hause oder führen Gespräche mit spontan getroffenen Bekannten. Es scheint so, als kenne hier jeder jeden. Ich laufe weiter durch den Wald, vorbei an Spiel- und Sportplätzen. Rechts neben mir verläuft ein kleiner Bach, es zwitschern Vögel, Eichhörnchen rascheln im Gebüsch. Ansonsten hört man nichts. Absolute Stille. Im Wald ist es auch angenehm kühl und außer ein paar Radfahrer, die mir entgegen kommen, bin ich ganz alleine.

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Am Mittelfeldbecken angekommen fange ich ein Gespräch mit einem älteren Herrn an. "Jeden Tag komm ich hier her und beobachte die Enten und den Reiher", sagt der 77-jährige Arthur aus Kasachstan. "Seit meiner Herzoperation vor ein paar Jahren vergesse ich viel, aber es waren einmal zwei Reiher, das weiß ich ganz genau." Vor über dreißig Jahren kam er nach Deutschland und wohnt mit seiner Frau im zweiten Stock. Seine Kinder wohnen auch in den Hochhäusern: "Da drüben wohnt mein Sohn", erzählt er mir und zeigt mit seiner Hand nach links. Irgendwie hab ich jetzt Lust auf diese Hochhäuser und verabschiede mich dankend von Arthur.

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Auf dem Weg Richtung Senftenbergring, wo die vielen Hochhäuser versammelt sind, komme ich auch noch bei einer Schule vorbei und entdecke ein neues zweistöckiges Einfamilienhaus. Das Märkische Viertel besteht also doch nicht nur aus "hohen Häusern", wie mir Sido versprochen hat.

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Das Märkische Viertel wird auch das "Merkwürdige Viertel" genannt und entstand zwischen 1963 und 1974. Insgesamt gibt es hier 17.000 Wohnungen für bis zu 50.000 Menschen. Ziemlich viele, wenn man bedenkt, dass das Märkische Viertel einen ungefähren Durchmesser von nur zwei Kilometern besitzt. Ich bin imponiert von dieser Höhe und will eigentlich nur noch eins: in den 17. Stock. Ich will diese Höhe spüren und die Weite sehen. Und wie es der Zufall so will, öffnet jemand die Tür und lässt die Eingangstür offen.

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Im Eingangsbereich treffe ich auf einen Mitbewohner, er grüßt mich freundlich, scheint es nicht zu bemerken, dass ich nicht von hier bin. Puh. Nach 1 Minute und 3 Sekunden bin ich im 17. Stock angekommen. Die Glastür öffnet sich leicht und ich wage meinen ersten Schritt auf den Balkon.

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Der Ausblick ist fantastisch: Bäume, Hochhäuser, Felder. Sogar einen kleinen Hügel in Brandenburg kann man erkennen, soweit sieht man. Der Wind bläst ein wenig, die Sonne scheint mir ins Gesicht, ich fühl mich irgendwie großartig. Auch einen Blick nach unten wage ich. Da wird mir dann aber doch ein wenig schwindelig.

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Ich verlasse das Haus wieder, natürlich per Lift, und bin wieder auf dem Senftenbergring. Wasser zieht mich magisch an und so lande ich beim Bruchstückengraben. Mein Kamerablick fällt auf einen leeren S-Bahn-Waggon mit weißen Spitzvorhängen. Ich werde neugierig. Ich überquere die kleine Brücke und befinde mich plötzlich auf einem alten Bahnhofsgelände.

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Ich treffe Rita und ihre zwei kleinen, bellenden Hunde. "Wir sind hier keine Laubenkolonie, sondern das sind Grundstücke der Niederbarnimer Eisenbahn!", ruft mir Rita durch den Zaun zu. Seit 7 Jahren erholt sie sich hier jeden Sommer lang von dem Lärm und ihrem Hochaus in Tegel.

Ich folge dem Graben weiter und lande schließlich bei einer richtigen Laubenkolonie. Grundstück für Grundstück liegt hier nah beieinander, getrennt durch hohe Zäune und Hecken. Im Hintergrund immer das Panorama der Hochhäuser. Ich treffe niemanden; sehr privat und ruhig ist das hier alles.

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Ich gelange zum zweiten See an diesem Tag – das Seggeluchbecken. Dieses Becken ist viel größer als das erstes und auch einige Hotels mit Seeblick und ein Biergarten versammeln sich rund um das Ufer.

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Anschließend gehts zurück in die "City". Kein Weg führt vorbei an der Shoppingpassage. Ich komme noch bei dem Fontane Haus, dem Kulturzentrum vom Märkischen Viertel, und anderen lustigen Spelunken vorbei, bevor's zurück zur Bushaltestelle geht.

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Das Märkische Viertel hat mich sehr überrascht. Die Atmosphäre ist ziemlich besonders, lässt mich aber nicht unbedingt an Drogen, Sex und Koks denken. Es scheint so, als ob hier jeder jeden kennt und durch das viele Grün und das viele Wasser eine hohe Entspannungsrate herrscht. Klar, es gibt hier keine hippen Porridge-Restaurants oder angesagte Clubs wie den Holzmarkt 25. Aber das scheint hier auch niemanden zu stören. Die Menschen haben ihren eigenen Mikrokosmos und kaum ein lauter, alkoholisierter Tourist könnte diese Idylle stören.

Um euch mit den Worten von Sido zu fragen: "Yeah, jetzt könnt Ihr euch entscheiden. Wer hat den geilsten Block in Deutschland, Alter?"

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