Wie schön war eigentlich Schwänzen?

© Jacalyn Beales | Unsplash

"Warte nur ab, bis du mal erwachsen bist", haben sie gesagt. "Dann wirst du für immer die Schulzeit vermissen", haben sie gesagt. Naja, zumindest hat das mein Deutschlehrer immer gesagt, bevor er den TV-Wagen reinrollte und eine Schiller-Verfilmung von 1994 anschaltete. Jetzt, wo man eindeutige Erwachsenen-Symptome zeigt (Haftpflichtversicherung, Fahrradhelm, Alkohol auch tagsüber), wird einem klar, dass das eine Lüge ist.

Mit ein paar Jahrzehnten Abstand finde ich immer noch, dass er Unrecht hatte. Ich vermisse genau nichts. Nur eine Sache war damals wirklich besser und wird nie wieder so schön: schwänzen. "Eine Veranstaltung oder ein Treffen trotz Verpflichtung nicht besuchen", lautet eine Definition. Zugegeben, ich habe ziemlich ausgiebig geschwänzt – nicht lässig rauchend auf dem Pausenhof, sondern eher auf die introvertierte Art, nämlich zu Hause mit Büchern und der CD-Sammlung erst der Großeltern, dann meiner eigenen. Zwischen Oberstufe und Exmatrikulation verbrachte ich auf diese Weise Zeit und wie meine passablen Abschlussnoten zustande kamen, kann ich nicht mehr rekonstruieren.

"Nein Mann, ich will noch nicht gehen. Ich will noch ein bisschen schwänzen!"

Im Erwachsenenleben funktionert Schwänzen aber leider nicht mehr so gut. Die Verpflichtungen, die man jetzt hat, sind mit deutlich unangenehmeren Konsequenzen verbunden als damals. Schlimmer noch: Schwänzen im eigentlichen Sinn – einfach ohne Abmeldung nicht hingehen, wo man eigentlich hingehen sollte – geht fast gar nicht mehr. Überall muss man nun rapportieren. Sich bei der Arbeit krankmelden oder einen Urlaubstag nehmen. Sich für fehlende Kenntnis rechtfertigen, Strafen zahlen, schlechte Bewertungen einstecken, böse Nachrichten lesen. Schwänzen ist vom einzigen Sport, den man zu Studienzeiten betrieb, zum Arschloch-Move geworden, den man besser nicht mehr bringt, wenn einem sein Job, seine Freunde und sein Ruf ein bisschen was wert sind.

Schwänzen ist zum Arschloch-Move geworden, den man besser nicht mehr bringt, wenn einem sein Job, seine Freunde und sein Ruf ein bisschen was wert sind.

Dabei ist Schwänzen doch so viel erholsamer und befreiender, wie es echte Freizeit jemals sein kann. Was man alles dabei gelernt hat! Wie gespenstisch ein menschenleerer Supermarkt vormittags um halb 12 aussieht, wie entspannt der Kioskverkäufer ist, wenn nicht 300 Kids bei ihm anstehen, wie glamourös es sich anfühlt, wenn man allein im Bus sitzt, als wäre er ein riesiges Taxi. Oft hat schon eine Stunde Schwänzen gereicht für ein kleines Abenteuer, ein kleines bisschen Streunertum. Danach konnte man mühelos zurückgleiten in den Strom aus Alltagsverpflichtungen.

Warum gibt es keine Schwänzer-App für Berufstätige?

So war das zumindest damals. Heute noch in den Genuss einer anständigen Schwänzerei zu kommen ist gar nicht so einfach. Die Konsequenzen sind viel zu oft teuer, anstrengend und am Ende den Aufwand nicht wert. Es ist ein seltsames Paradox: Nichtstun fühlt sich noch besser an, wenn man eigentlich sehr viel zu tun hätte.

Es sollte eigentlich eine Schwänzer-Agentur oder eine App geben, die Berufstätigen und anderen Menschen mit vielen Verpflichtungen ein konsequenzloses, unbeschwertes Schwänz-Erlebnis ermöglicht. Ich meine, wir sind doch in Berlin, hier geht doch sowas. Namensvorschläge: Schwänzify, Schwänzeroo, Schwänzerando. Man meldet sich an, bekommt einen verbindlichen Termin für eine langweilig klingende Veranstaltung und geht dann einfach nicht hin. Danach bekommt man per Mail noch einen Nachbericht, Danksagungen oder Protokolle, die man dann mit kleinem Gewissensbiss, aber leichten Herzens in den Papierkorb wandern lassen kann. Ich würde mir das sofort runterladen. Und dann, naja, erstmal nicht benutzen. Alte Muster sitzen tief.

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