Wie ich in der Ringbahn lernte, was ein echter Dreckstag ist

Es ist einer dieser Tage. Einer dieser Dreckstage, die eigentlich morgens schon weg können. Erst habe ich verschlafen, dann in der Eile meinen Schirm vergessen. Nun regnet es wie aus Eimern – natürlich – und ich stehe hier nach einem 10-Stunden-Tag mit knurrendem Magen und pochenden Kopfschmerzen. Es reicht einfach.

Eigentlich sollte er auch schon vorbei sein, dieser Dreckstag. Ich könnte schon längst zu Hause sein. Stattdessen stehe ich hier wie ein Depp am Bahnsteig und warte. Immer noch. Weil auch die vierte Ringbahn kurzfristig entfällt. Natürlich. Wegen einer "Störung im Betriebsablauf". Natürlich. Die automatische Lautsprecherdurchsage bittet um Entschuldigung, und dass ich nicht losbrülle wie ein angestochener Stier und alles, was mir auch nur ansatzweise im Weg rumsteht, wie ein eben solcher auf die Hörner nehme, ist ein kleines Wunder.

Als die S-Bahn endlich einfährt, ist sie rappelvoll. An einen Sitzplatz ist nicht zu denken; ich kann froh sein, dass ich überhaupt reinkomme. Bei dem Gemisch aus warmer Luft und Schweiß, das mir aus der Bahn entgegen schlägt, ist an Freude allerdings nicht zu denken.

Ich könnte schon längst zu Hause sein. Stattdessen stehe ich hier wie ein Depp am Bahnsteig und warte.

Die nächste Station kann gar nicht schnell genug kommen. Hier spuckt die S-Bahn wie üblich massenweise Fahrgäste auf den Bahnsteig. Aber bevor ich mich nach einem freigewordenen Platz umschauen kann, drängen auch schon die Zusteigenden lärmend in den Waggon.

Eine Frau im Pelz besteht darauf, ihr Fahrrad mitzunehmen, was einem Mann in Lederjacke überhaupt nicht passt. Es entbrennt ein Brüll-Duell darüber, ob das in diesem Wagon überhaupt erlaubt ist und wer von den beiden hier der Asoziale ist. Keine halbe Minute später droht der Mann in der Lederjacke, das Rad an der nächsten Station aus dem Zug zu werfen. Die Frau im Pelz droht im Gegenzug mit Polizei. Am liebsten möchte ich sie anbrüllen, dass sie alle beide die Klappe halten sollen. Ich stehe von allen Seiten eingekeilt im Gang und balle die Faust in der Manteltasche.

Der Zug hält erneut. Hier steigen kaum Leute aus, aber dafür steigt noch jemand zu. Als die S-Bahn sich wieder in Bewegung setzt, meldet sich plötzlich eine leicht schwankende Frauenstimme zu Wort, die es irgendwie schafft, zugleich dünn und bohrend zu sein: "Schönen guten Abend und bitte entschuldigen Sie die Störung. Ich bin zur Zeit leider ohne Wohnung und –"

Ernsthaft? Ich gebe grundsätzlich gerne was, aber warum drängelt man sich zum Feierabendverkehr in eine heillos verspätete und komplett überfüllte Bahn, um zu betteln? Was soll das bringen? Da hört doch eh keiner hin. Und den Geldbeutel zückt erst recht niemand.

Warum drängelt man sich denn zum Feierabendverkehr in eine heillos verspätete und komplett überfüllte Bahn, um zu betteln?

"Ich habe leider keine Zeitung, die ich Ihnen anbieten kann", fährt die Stimme fort. Sie kommt näher. "Aber vielleicht hat ja trotzdem jemand von Ihnen 'n bisschen Kleingeld übrig. Oder was zu essen. Ich würd' mich auch über was zu essen freuen."

Während sie spricht, drängelt die Frau sich von einem Ende des Wagons zum anderen. Sie trägt formlose Klamotten; die grau melierten Haare kleben ihr in regennassen Strähnen im Gesicht. Trotz der Enge machen alle stillschweigend Platz. Als sie bei mir ankommt, verstehe ich warum: Sie verströmt einen derart beißenden Geruch, dass man kaum anders kann, als zurückzuzucken. Der schamerfüllte Seitenblick, den sie mir im Vorbeigehen zuwirft, lässt mich wissen, dass sie sich dessen sehr wohl bewusst ist. Hektisch schaut sie von einem zum anderen.

"Irgendjemand?" Sie ist nun wieder etwas weiter entfernt von mir, aber es liegt nicht nur daran, dass ihre Stimme immer leiser wird. "Kann mir irgendjemand helfen? Bitte?"

Mit meiner Vermutung lag ich richtig. Niemand antwortet, niemand rührt sich. Aber ich habe das Gefühl, es ist nicht Stress und Ärger, der den Waggon schweigen lässt. Die Frau im Pelz und der Mann in der Lederjacke schauen stur auf ihre Schuhspitzen, bemüht, weder einander noch die Frau ansehen zu müssen. Ich habe nicht mehr die Faust in der Tasche geballt, sondern einen Kloß im Hals.

"Bitte..." Die zitternde Stimme bricht endgültig. Die Frau beginnt zu weinen, erst leise, dann laut schluchzend. Am hinteren Ende des Wagons sackt sie zusammen. "Bitte..."

Die Frau beginnt zu weinen, erst leise, dann laut schluchzend. Am hinteren Ende des Wagons sackt sie zusammen.

Im Waggon ist es jetzt so still, dass man die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören könnte. Außer den Fahrgeräuschen des Zuges ist nur das anhaltende Schluchzen zu hören.

In der Hollywood-Fassung der Geschichte wäre das der Moment, wo ich mir ein Herz fasse und zu ihr gehe. Ich würde ihr mein gesamtes Bargeld überreichen und dann herausfinden, wie sie eigentlich in diese Situation gekommen ist. Aber das ist nicht die Hollywood-Fassung, sondern die wahre. Und die Wahrheit ist, dass ich wieder mal völlig bargeldlos bin und außerdem völlig überfordert. Ich starre vor mich hin und warte, ohne zu wissen, worauf.

Es ist die Bettlerin selbst, die dem Spuk ein Ende bereitet. Als der Zug an der nächsten Station hält, hat sie sich wieder ein wenig beruhigt. Sie rafft sich mühsam vom Boden auf und verschwindet dann mit gesenktem Kopf auf den Bahnsteig. Gleich darauf schließen sich die Türen wieder, und die S-Bahn fährt weiter.

Das Schweigen bleibt. Genauso wie der Kloß in meinem Hals und die Frage, für wen es eigentlich ein Dreckstag war.

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