Was passiert, wenn der Wedding wirklich "kommt"?

Es ist seltsam, dass ich ausgerechnet in dem Moment, da aus einem vorbeifahrenden Auto in Tiergarten "Lebt denn der alte Holzmichl noch …?" in die kühle Novemberluft schallt,  an den Wedding denken muss. Der Schlagerhit hat auf den ersten Blick wenig mit dem Berliner Bezirk zu tun, in dem zur Zeit 85 000 Menschen leben. Trotzdem fällt mir auf: Das erzählerische Motiv ist sowohl beim Holzmichl als auch beim Wedding dasselbe. Zentral ist die Frage, ob er noch lebt – oder, im Fall des Wedding, noch kommt. Beim Holzmichl erfolgt im Refrain die Auflösung: "Ja, er lebt noch!". Beim Wedding ist man sich unsicher.

“Der Wedding kommt” suggeriert dauerhafte Aufbruchstimmung

An dieser Stelle soll es aber gar nicht darum gehen, ob der Wedding nun tatsächlich kommt oder nicht. Vielmehr frage ich mich, welche Funktion ein nie fertig werdender Stadtteil für das Selbstverständnis Berlins hat und in welcher Wechselwirkung die Prophezeiung, dass da noch etwas komme, mit den Bewohnern steht. Obwohl der Claim "Der Wedding kommt" einst nur eine Kampagne des Berliner Stadtmarketings war, hat er sich mittlerweile als ernstgemeinter Running Gag im städtischen Sprachgebrauch etabliert. Natürlich wird auch an allen anderen Ecken und Enden in der Stadt gebaut und investiert, aber nirgendwo sonst ist diese strukturelle Pubertät so sehr mit der DNA eines Bezirks verwoben wie im Wedding.

Dieser Ruf hat das Viertel damit im stadtpsychologischen Sinn zu einem lebenden, knapp 10 Quadratkilometer großen Denkmal für das Gefühl gemacht, noch alles vor sich zu haben. Berlin als Stadt der Kreativen, Künstler und Startup-Gründer zieht viele an, die genau das suchen – das neugierige, erwartungsvolle Kribbeln, was da wohl bald kommen möge. Als Slogan für die Chimäre aus Sorgenkind und Hoffnungsträger suggeriert “Der Wedding kommt” dauerhafte Aufbruchstimmung – zumindest für die, die nicht jeden Tag die Müllerstraße nach Pfandflaschen absuchen. Und doch klingt es auch ein wenig nach diffusem Trost für die vielen Menschen, die hier unterhalb der Armutsgrenze leben: "Macht euch keine Sorgen, der Wedding kommt. Das wird schon!" Es weiß eben nur keiner genau, wann oder wie.

Wenn der Wedding kommt, müssten viele gehen

Derzeit kommen allerdings vor allem Investoren. Erst vor Kurzem wurde bekannt, dass am S-Bahnhof Wedding ein riesiger Gebäudekomplex für Einzelhandel, Gastronomie und Gewerbe entstehen soll. Keine wirklich schöne Aussicht, zumindest nicht für sozial schwache Anwohner und Ladenbesitzer. Auch im Sprengelkiez können sich schon ein paar durchgestylte Bars und Restaurants gegen die Trinkhallen, 1-Euro-Shops und Automatencasinos behaupten. Sicher ist nur: Wenn der Wedding kommt, müssten viele gehen. Aber was würde passieren, wenn der Wedding plötzlich "da" wäre? Wäre das dann überhaupt noch das Berlin, das wir kennen? Womöglich wäre Berlin dann – oh Schreck – erwachsen? Oder einfach nur eine arrivierte deutsche Großstadt mit einer hohen Dichte an sozialen Brennpunkten? Die Rolle der umtriebigen, agilen Stadt der Jungen und Aufsteiger wäre dann jedenfalls ein bisschen weniger glaubhaft, so ganz ohne Jungtalent unter den Stadtteilen.

Ich erzähle einer Freundin, die am nördlichen Rand des Afrikanischen Viertels wohnt, von meiner Theorie, dass der Wedding Berlins symbolischer Jungbrunnen ist. Sie ist eine von den vielen ganz normalen Leuten im Wedding, von denen man sonst nicht viel mitbekommt. "Wenn du mich fragst: Der Wedding ist ein runtergekommener Schrotthaufen, fast überall. Ich wohne hier nur, weil ich mir gerade nichts anderes leisten kann", sagt sie. "Und bevor der Wedding kommt, wird eher der BER fertig." So kann man es natürlich auch sehen.

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