Warum ist uns Unwissenheit so peinlich?

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Wenn ich in einem Restaurant die Bedienung frage, welche Weine sie haben, hoffe ich immer, so etwas zu hören wie „rot und weiß“. Was ich jedoch stattdessen höre, ist oft etwa „Wir haben einen Shiraz mit 40% Cabernet von 2015, einen Rioja von der Tempranillo-Rebe oder als Weißwein den Bordeaux Sauvignon Blanc.“ Alles, was mir dazu einfällt, ist: Ich wusste noch nicht mal, dass ein Bordeaux auch ein Weißwein sein kann. Das würde ich jedoch niemals zugeben – stattdessen frage ich dann meist nach, welcher der Weine denn trocken sei, obwohl ich damit überhaupt nichts anfangen kann und bis heute darüber rätsele, wie es eine "trockene Flüssigkeit" geben kann.

Wieso ist das Kunst? Das sind große, rote Glasplatten. Die kosten im Baumarkt 20 Euro.

In Situationen wie dieser ertappe ich mich sehr oft: nicht zugeben wollen, dass ich von etwas überhaupt keine Ahnung habe. „Hast du den neuen Film von Martin Scorsese schon gesehen? Ich liebe seinen Stil! Die langen Kamerafahrten, die schnellen Schnitte – meiner Meinung nach um Welten besser als Quentin Tarantino, der ist mir zu plakativ und zu sehr an Howard Hawks und Godard orientiert.“ Wow! Ich habe kein Wort verstanden. Ist Tarantino nicht eine Spinnenart?

„Ich war neulich in der Gerhard-Richter-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie. Wahnsinnig beeindruckende Arbeiten, vor allem „Spiegel, blutrot“, findest du auch?“ Abgesehen davon, dass ich „Spiegel, blutrot“ erst googeln musste, ist das eine Serie von unterschiedlich großen, roten Glasplatten. Es sind rote Glasplatten. Die kosten im Baumarkt 20 Euro – was genau soll mich daran beeindrucken? Ähnlich geht es mir mit Gesprächen über Musikstile, Oldtimer, Schauspieler, Konservierungsstoffe – und manchmal auch mit den Hauptstädten von Bundesländern. Deutschen Bundesländern, nicht französischen. Was ich dafür ziemlich gut kann: mit leicht zusammengekniffenen Augen sehr langsam nicken, kurz nachdenklich wirken und so tun, als würde ich gleich etwas Gegenteiliges sagen, dann aber doch zustimmen. Das kommt mir sehr intellektuell vor.

Dass die meisten Menschen ungern zugeben, dass sie etwas nicht wissen oder sich mit etwas nicht auskennen, ist Fakt. Aber warum ist uns das so peinlich?

Wissen ist Macht

Laut der Philosophie von Francis Bacon ist Wissen Macht. Im Umkehrschluss hieße das: wer unwissend ist, ist machtlos. Ob er das genauso meinte, kann ich ihn leider nicht mehr fragen, weil er 1626 gestorben ist. Aber es beschreibt im Grunde sehr gut das Gefühl, das uns beschleicht, wenn wir uns damit outen, etwas nicht zu wissen. Wir fühlen uns bloßgestellt, ungebildet, im schlimmsten Falle: dumm. Wir haben keine Kontrolle mehr über das Gespräch, wir können nicht mitreden. Das wollen wir natürlich nicht – wir wollen doch dazugehören, geliebt werden, von anderen bewundert und anerkannt. Das liegt in unserer Natur, wir sind Herdentiere. Und die Herde soll uns nicht ausschließen, deswegen versuchen wir es zu vermeiden, negativ aufzufallen.

Wer aber zugibt, dass er unwissend ist, macht sich damit angreifbar und verletzbar, zeigt, dass er auf einem bestimmten Gebiet schwächelt. Selbst vor unseren Freunden ist uns das unangenehm. Leichter fällt es, wenn wir zu jemandem sehr großes Vertrauen haben. Wenn wir wissen: der wendet sich nicht von uns ab, nur weil wir die binomischen Formeln nicht auswendig können.

Mut zur Lücke!

Dabei gibt es viele Gründe, die dafür sprechen, zu fehlendem Wissen zu stehen. Einer davon ist: Es ist furchtbar anstrengend, immer so zu tun als, könne man bei allem mitreden, obwohl man eigentlich gar keine Ahnung hat, was additive Polygenie ist. Ein weiterer: Es ist gar nicht schlimm zuzugeben, dass man etwas nicht weiß. Weder verkürzt sich dadurch die Lebenserwartung, noch wird einem der Mietvertrag gekündigt. Wer zugibt, etwas nicht zu wissen, wirkt dadurch sogar sympathisch. Es sei denn, man kann mit der Abkürzung BRD nichts anfangen oder weiß absolut nicht, wer Beethoven war – ebenso schwierig ist ein „Angela wer...?“.

Ich dachte, 'dekantieren' heißt, jemandem den Kopf abschlagen. Sag doch einfach 'eingießen'

Ansonsten sollten wir lernen, Schwächen und Fehler einzugestehen, es aushalten und ertragen, mal unwissend zu sein. Sei ruhig mal mutig, gib zu, dass du etwas nicht weißt! Das ist eine richtig schöne Übung (viel schöner als die Übung, die Beckenbodenmuskulatur mehrmals täglich anzuspannen für einen gesunden Rücken). Es geht ganz einfach: Dazu stellst du dich einfach aufrecht und gerade hin, setzt einen selbstbewussten Blick auf, lächelst deinen Gesprächspartner an und sagst „Oh, das weiß ich gar nicht. Damit kenne ich mich nicht aus. Kannst du mir mehr darüber erzählen?“.

Wenn du dich mit jemandem unterhältst, bei dem du merkst, er oder sie benutzt viele Fachbegriffe, um besonders intellektuell oder überlegen zu wirken, kannst du auch zu Schritt zwei übergehen: deinem Gesprächspartner mitteilen, dass er sich gerne verständlich ausdrücken darf. „Ich dachte, 'dekantieren' heißt, jemandem den Kopf abschlagen. Sag doch einfach 'eingießen', dann verstehe ich gleich, was du meinst."

Üben, üben, üben

Du wirst schnell merken, dass sich dein Leben nicht negativ verändern wird, wenn du ganz ehrlich äußerst, dass du etwas nicht weißt. Im Gegenteil: Du wirst vielleicht plötzlich Dinge verstehen, die dir vorher ein Rätsel waren, weil du jetzt nachfragst und dir geholfen wird. Und wenn wir erstmal die Erfahrung machen, dass wir durch das Zugeben einer vermeintlichen Schwäche nicht weniger geliebt werden, werden wir nach und nach mutiger, selbstbewusster, fühlen uns dabei nicht mehr schlecht. Es ist ein Lernprozess, ähnlich wie der des Pawlow'schen Hundes. Den kennst du nicht? Das ist gar nicht schlimm! Wirklich.

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