Warum hat Nachdenken so einen schlechten Ruf?

© Hella Wittenberg

In ihrer Kolumne "Fragen an das seltsame Leben" stellt Autorin Ilona Fragen zu den großen, aber vor allem zu den kleinen, unscheinbaren Rätseln des Alltags. In dieser Folge: was ist eigentlich so schlimm am Nachdenken?

„Du denkst zu viel nach“. Hat neulich jemand zu mir gesagt. Da habe ich natürlich drüber nachgedacht. Es war nicht das erste Mal, dass ich diesen Satz gehört habe, eigentlich begleitet er mich, seit ich, naja, denken kann. War wohl schon immer zu viel, was da in meinem Kopf vorging, zumindest von außen betrachtet. Für mich hat sich die Denkmenge sehr normal angefühlt, außer eben dann, wenn wieder konstatiert wurde „Du denkst zu viel nach“. Nachdem ich nun also eine Weile darüber kontempliert habe, finde ich: dieser Satz ist furchtbar. Er gehört verboten. Bevor das entsprechende Gesetz festgeschrieben wird, möchte ich ihn aber nochmal in Form und Inhalt so sehr auseinandernehmen, dass jeder, der in zu sagen versucht, sich in Zukunft schamvoll auf die Zunge beißen und nochmal, tja, darüber nachdenken wird.

Man könnte genauso gut sagen: Hör mal, du atmest einfach zu viel.

„Du denkst zu viel nach“ kann, je nach Kontext und Konstellation alles Mögliche heißen. Meistens ist es ein gut gemeinter Rat, der eigentlich heißt „Mach dir nicht so viele Sorgen. Alles ist und wird gut.“ Was Schönes also im Grunde, da kümmert sich jemand um mein Wohlergehen und möchte, dass ich unbeschwert und zufrieden bin. Leider hat die Sache aber einen Haken: Nachdenken ist etwas sehr Persönliches und Intuitives. Man könnte genauso gut sagen „Hör mal, du atmest zu viel. Versuch doch mal, das einfach etwas runterzufahren.“ Es schwingt auch immer die Aussage mit: Du machst etwas falsch. Und mehr noch: Mit dir stimmt da was nicht. Denn Denken passiert die meiste Zeit unbewusst, nebenher, untendrunter oder über den Dingen, selten mit voller Aufmerksamkeit. Wie viel man nachdenkt ist weniger eine aktive Entscheidung, sondern schlicht eine Charaktereigenschaft. Wie viel innere Reflexion, Beschäftigung und Vor- und Nachbereitung jemand zur Bewältigung seines Lebens braucht, ist individuell so verschieden wie der Fingerabdruck. Es ist ein gut gemeinter Ratschlag, der in erster Linie Schuldgefühle produziert, statt eine konstruktive Kritik darzustellen.

Nachdenken ist geistige Landwirtschaft

Dazu ist der Satz auch viel zu unpräzise. Oft ist es auch eher eine Metapher, die viel mehr über denjenigen aussagt, der den Satz spricht. Zu jemandem zu sagen, „Du denkst zu viel nach“ heißt unter Umständen „Ich fühl mich deinen Gedanken nicht gewachsen“ oder „Ich hab keine Zeit, dir zuzuhören“ oder „Zieh mich bloß nicht runter“. Ein Abwehrmechanismus, der ganz hervorragend seinen Dienst tut, nämlich eine schützende Distanz zu schaffen. Wer gesagt bekommt, dass er oder sie zu viel nachdenke, zieht sich intuitiv noch mehr in sich zurück, denn wohin sonst sollte man hin, wenn das Gegenüber mit so viel Unverständnis reagiert? Außerdem muss man ja über diesen Vorwurf nachdenken.

Zu glauben, dass es jemanden aktiver, produktiver, kreativer, schneller, sorgloser oder sonst wie befreiter machen würde, wenn er oder sie nur das Nachdenken einstellte, ist dabei ein ironischer Irrtum. Denn grade die, die an Ideen, Visionen, neuen Wegen, Entwürfen und Strategien interessiert sind und sich als "Macher" begreifen, übersehen das geistige Potenzial, das in denen liegt, die „zu viel“ nachdenken. Nachdenken heißt Auseinandersetzung, heißt Strukturierung von Erlebtem, heißt den Weg zu bereiten für Neues und abzuschließen mit Altem. Nachdenken heißt den Nährboden fürs Machen zu schaffen, und zwar so gut wie möglich. Beim Nachdenken werden Ideen angebaut, die, wenn man sie an die Luft lässt, wachsen und wahr werden können. Manchmal sind es Luftschlösser – aber außer ein paar MB Gehirnspeicher hat man dafür keine weiteren Ressourcen verbraucht. Nachdenken ist eine nachhaltige Art geistiger Landwirtschaft, sie braucht nichts als Zeit und ab und zu mal einen Kaugummi. Überhaupt: seit wann hat Nachdenken so einen schlechten Ruf? Ohne genaue Zahlen zu kennen, gehe ich davon aus, dass das meiste Elend in der Welt eher vom Nichtnachdenken rührt. Der Fiat Multipla, der BER, Klimawandel und alle Platten von Kings of Leon seit „Because of the Times“ wären der Menschheit erspart geblieben, wenn ein paar der Verantwortlichen mal ein wenig mehr nachgedacht hätten. Die ganze Welt sehnt sich derzeit danach, dass Donald Trump eines Morgens erwacht und twittert: Leute, ich habe nachgedacht.

Einer muss es ja machen

Ja, schon klar, gibt es auch Arten des Nachdenkens, die auf lange Sicht nicht erfüllend oder konstruktiv sind. Zweifeln und Grübeln und Dinge zerdenken und sich Worst-Case-Szenarien ausmalen sind Verfahren, die bei dauerhafter Anwendung unstreitbar keine positiven Effekte haben. Zum persönlichen Reifeprozess eines Vieldenkers gehört, zu erkennen, wann gesunder Zweifel in selbstzerstörerische Unsicherheit umschlägt – und dann entsprechende Methoden zu finden, sich aus der Abwärtsspirale wieder nach oben zu denken. Ich glaube nicht daran, dass man zu viel nachdenken kann. Ich glaube daran, dass man durch zu viel nachdenken das Machen vergisst oder keine Zeit mehr dafür hat. Und dass man sich im buchstäblichen Zweifelsfall vor allem darauf konzentrieren sollte: mehr machen. Vom Passiv ins Aktiv umdenken, dann reguliert sich die Balance aus innerer Reflexion und tatsächlicher Umsetzung ganz von selbst. Was dabei übrigens nicht hilft: Gesagt bekommen, dass man mit dem Nachdenken aufhören soll. Bei all der Denkerei nicht aus der Realität zu kippen, ist manchmal ziemlich herausfordernd für Menschen, die schon von kleinauf mit dem Stempel „Kopfmensch“ herumlaufen. Sie mit der rigiden Feststellung „Du denkst zu viel nach“ in einem essentiellen Teil ihrer Persönlichkeit zu kastrieren, ist trotz jeder guten Intention eine oberflächlich und unsensibel. Und außerdem muss sich auch irgendwer die Lösungen für die Probleme ausdenken, die durch zu wenig Nachdenken entstanden sind.

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