Warum der Selfie-Wahn 2018 endlich aufhören muss
Im Social-Media-Dschungel haben Selfies der Realität längst den Rang abgelaufen. Sie funktionieren einfach besser als die Realität, lassen sich besser vermarkten. Das Problem an der Sache ist: Wer von Selfie zu Selfie lebt, steht unter Stress. Weil wir auf Plattformen wie Instagram unser Leben wie Waren auf dem Markstand feilbieten, müssen wir uns bald etwas einfallen lassen, um unsere Frische und damit Beliebtheit aufrecht zu erhalten. Wer sich jahrelang öffentlich in Dessous, Bikinis und kurzen Klamotten präsentiert, um geliked und gehyped zu werden, fürchtet den Gammelfleischskandal vielleicht mehr als die ranzige Dönerbude nebenan.
Wer das Self-Catering nicht mehr aushält, wer nicht mehr jeden Tag frische Ware liefern kann, muss irgendwann kapitulieren. Aus für den Partyservice, hier gibt’s nichts mehr zu sehen. So geschehen bei der 19-jährigen Essena O’Neill aus Australien, die trotz 800.000 Followern aus ihrem selbstgemachten Fleischwarenbusiness ausstieg, weil der Druck der Perfektion zu groß für sie wurde. Seit Jahren beglückte sie ihre Gefolgschaft mit dem, was sich verkaufen ließ: ihrem Körper. Mit 19 hat sie jetzt Burnout und will lieber über die Tücken des Selfie-Wahns aufklären.
Für das perfekte Selfie wird sogar der Tod leichtfertig in Kauf genommen
Der Selfie-Wahn treibt auch nicht ganz risikofreie Blüten, was mit ihrer "Lautstärke" zu tun hat. Wer am lautesten brüllt, hat die größte Reichweite, ergo: Wer das krasseste Selfie macht, hat die meisten Views. Während es bei Singlefrauen um ihr Aussehen, bei Eltern um ihr perfekt arrangiertes Familienleben und bei Stars um ihre aalglatte "Normalität" geht, verkaufen Männer überdurchschnittlich gern ihr Überleben. So wie Wu Yongning aus China, der berühmt damit wurde, nicht zu sterben. Immer wieder begab er sich für Likes in Lebensgefahr, so süchtig nach dem Adrenalinkick wie nach dem "Klick". Zuletzt stürzte er bei einer seiner Aktionen in den Tod, als es ihm nicht wie sonst gelang, ohne Sicherungsmittel auf das Dach eines Hochhauses zu klettern. Wu hat nicht nur viele Fans, sondern auch Nachahmer und ernstzunehmende Nebenbuhler im Selfie-Business. Ob sein Tod ihnen eine Lehre ist? Der Tod lässt sich gut verkaufen, das Über-Leben der anderen: leider besser.
Ein Selfie ist aber nicht nur Nabelschau und Thriller. Ein Selfie kann auch wie ein Krümelchen Kuchen sein. Man bekommt einen kleinen Vorgeschmack davon, wie der vermeintliche Rest der Torte schmecken könnte. Promis setzen inzwischen darauf, das Selfie als eine Art Bröselspur durchs Leben zu nutzen. Stars wie Hugh Jackmann haben unlängst bestätigt, dass Selfies für sie ein Weg sind, ihren Fans etwas mitzuteilen und sich lästige Papparazzis von der Pelle zu halten. Für so ein Close-up wurden früher Tausende gezahlt. Heute verschenken Promis ihre Nahaufnahmen.
Der Selfie-Wahn geht neuerdings zum "Ich mit gewissen Vorzügen" über, heißt: In Selfies sehen wir zunehmend per Software geschminkte Gesichter, Frauen "highlighten" ihr Gesicht mit optisch vergrößerten Augen, wer's mag trägt Hundenasen oder Hasenohren. Frei nach dem Motto „Was nicht passt, wird passend gemacht“ wird geschmälert, glatt geschmirgelt, vergrößert und verfeinert, was in der Wahrheit Social-Media-untauglich ist.
Wer auf Selfmarketing à la Hornbach („Es gibt immer was zu tun“) keinen Bock mehr hat, beendet das Ganze mit etwas, was wir heute nicht mehr so häufig antreffen: der Realität. Es gibt Menschen, die entweder die Wahrheit erzählen („Ich habe 200 Fotos gemacht, ehe ich eins gepostet habe“) oder die Wahrheit zeigen („So sehe ich übrigens in echt aus. Und ja: Ich werde trotzdem geliebt“).
Wozu tut man sich diesen Stress an?
Mal ehrlich: Inzwischen wissen wir doch alle, dass Selfies im Normalfall nicht die Normalität zeigen. Wir wissen, dass unsere Freundin in Wirklichkeit kleine Augen hat. Wir waren auf derselben Party, wie unsere Kollegin und können beteuern, dass sie in dem Kleid keine Taille hatte. Wir wissen, dass morgens keiner aus dem Team joggen war, trotz der #morningfitness-Posts bei Instagram und wir wissen auch, dass Facetten zum Leben dazugehören wie Dellen in die Oberschenkel.
Vielleicht wollen wir im Jahr 2018 mit gutem Beispiel vorangehen und etwas gegen den Selfie-Wahn unternehmen, indem wir uns selbst so zeigen, wie wir sind. Unverklemmt und authentisch, vielleicht auch mal ein bisschen daneben: So können wir uns 2018 von der Selfie-Last befreien. Machen wir es wie Oma, die mit zusammengekniffenen Augen über ihren Brillenrand schielte, als sie mit erstaunlichen Verrenkungen versuchte, ein Selfie von sich zu machen und sich nicht sicher war, ob die Kamera schon ausgelöst hatte oder nicht. Dieses Bild unverfälschten Laientums benutzt sie nun ganz selbstbewusst als ihr neues Profilbild. So geht das! Beginnen wir das neue Jahr mal ganz entspannt und so, wie es geendet hat: Mit dem, was wir sind und nicht mit dem, was wir sein wollen
Ebony June Popiolek