Von Hannover nach Berlin – Wie ich in Berlin die Freiheit fand

© Kerstin Musl

"Berlin, du bist so wunderbar, Berlin!" Wer kennt sie nicht, die Sommerhymne auf Berlin, die uns selbst an grauesten Tagen durch den Kopf grooven kann? Berlin, das dicke B an der Spree, wo Peter Fox des Nachts entspannt durch die Kotze am Kotti stapft. Die Stadt, wo du nächtelang feiern kannst, Frühstück (wohl deshalb) bis 18 Uhr angeboten wird und die meisten Läden erst um 9 oder 10 ihre Tore öffnen. Die Stadt, wo bei Starkregen die Kanalisation inkontinent wird und trotzdem alle zu Fuß unterwegs sind. Wo Kinder und Hunde sich auf den Gehwegen Konkurrenz machen und Drogendealer mit der lokalen Polizei Deals zur gegenseitigen Befriedung anbieten. Eine Stadt, wo die Obdachlosen und Junkies Zeltlager im Schlosspark des Königs aufbauen und alles, aber auch wirklich alles, zu Kunst erklärt wird, was länger als einen Monat unbewegt am selben Fleck steht. Eine Stadt, in der für Immigration protestiert und gegen Schwaben skandiert wird. Wo die Kellner unfreundlich sind, es sei denn, sie sind neu in der Stadt, und wo es im Umkreis von einem Kilometer mehr Friseure als Haare gibt. Berlin, du bist unvergleichlich!

Wer hier kein Zuhause findet, war nicht auf der Suche

Wer hätte je gedacht, dass es einen freiheitsliebenden Ami mal in den Osten statt in den Westen ziehen würde? Aber so isses. Hannover, da habe ich einfach nicht hingepasst. Das lag nicht an meiner Hautfarbe, an meiner Herkunft oder meinen Freunden. Das lag an meinem Unvermögen, mich mit meiner Heimatstadt kompatibel zu zeigen. So geht es wohl (fast) jedem, der in Berlin aufschlägt und sofort fühlt: „Ich bin zuhause“. Inkompatible, die passen hier am besten hin. Hier gibt es einfach alles, du musst es dir nur suchen. Es gibt den kiffenden und Rave-tanzenden Polizisten, es gibt den weißen Schwarzen und den schwarzen Weißen, es gibt lockere Spießer und verstockte Liberale, es gibt Alt-68er und Millenials, es gibt Angela Merkel und Ströbele, es gibt Kinder und Ratten, wie Sand am Meer, es gibt Asphalt und grüne Oasen, es gibt schlimme Ostbuden und moderne New-Age-Bauten: Es gibt ALLES. Wer hier kein Zuhause findet, war nicht auf der Suche, wer hier nicht wohnen kann, braucht keine Auswahl! Berliner: Das sind Leute, die Rosinen aus jedem Brötchen picken und mit dem Rest die Tauben füttern. Hier macht man's so, wie man will. Das geht anderswo einfach nicht.

Berliner: Das sind Leute, die Rosinen aus jedem Brötchen picken und mit dem Rest die Tauben füttern.

Was machst du nochmal?

In Hannover hat man mit dreißig einen wunderschönen, geradlinigen und nachvollziehbaren Lebenslauf. „Sie haben da eine große Lücke in ihrem Lebenslauf“ – „Ja, war 'ne geile Zeit“ Sowas gibt’s da nicht. Wer das nicht hat, ist nichts. So einfach ist die Rechnung. Markenklamotten, Titel, Papiere und der berühmte 24-7-Job. Wer viel arbeitet, wird bewundert. Das riecht dann verdächtig nach Karriere. Kein Wunder, dass meine ganze Bekanntschaft aus Hannover kopfschüttelnd über die vielen Menschen in den Cafés rumwundert. „Es ist erst 10“, stellt meine Freundin verwundert fest. „Arbeiten die alle nicht?“

Das ist halt so der Kurzschluss. Die sitzen um 10 im Café, die können ja keinen Job haben. Dass wir die Stadt der Selbstständigen, der freien Zeiteinteiler, der Remote-Worker, der Elternzeitnehmer, der Künstler, Blogger und Denker sind: Das weiß sie nicht, das versteht sie nicht. Für Hannoveraner ist es heikel, nicht zu wissen, wo sie dich eintüten können. Da fehlt einfach der Boden für die soziale Konnektivität. Worüber redet man, wenn Haben irrelevant ist?

Für Hannoveraner ist es heikel, nicht zu wissen, wo sie dich eintüten können.

Das hier ist nicht Gotham City!

Wer die Nachrichten regelmäßig konsumiert, weiß eben grade nicht, was hier abgeht. Die No-Go-Zonen habe ich fast alle völlig unbehelligt bereist, der Kriminalität am Alex haste mit einem sicher verwahrten Smartphone oder Portemonnaie schon ein Schnippchen geschlagen! Meine Eltern sind mir und meinem Bruder vom Dorf am Rande Hannovers mitten ins Leben nachgezogen. Bevor sie Berlin kannten, wie wir es kennen, verfolgte mich das Mütterliche „Ist das nicht viel zu gefährlich, jetzt noch rauszugehen?“, wenn ich einen Mitternachtschat mit den Worten: „Ich geh jetzt noch mit dem Hund 'ne Runde“ beendete. Sie hatte im Fernsehen alles, was Berlin unattraktiv macht, aufgesogen, wie ein Schwamm. Erst unser Leben hier, das aktive Miterleben, zeigte meinen Oldies, dass Berlin eine ur-schöne, tolle Stadt ist, und kein gewaltiger Molloch, in dem der gute Bürger von der Kriminalität verschlungen wird. Das hier ist nicht Gotham City! Wir brauchen keinen Batman. Wir haben einen Müller.

Erst unser Leben hier, das aktive Miterleben, zeigte meinen Oldies, dass Berlin eine ur-schöne, tolle Stadt ist

Berlin ist wie Amerika – nur geiler

Was du in Berlin kriegst, ob du willst oder nicht, ist ein Wir-Gefühl. Du sagst bald nicht mehr, wo du herkamst, du sagst, wo du jetzt herkommst. So wie ein neuer Ami trotz Kippa, Turban oder Niqab stolz den Pass schwenkt und sagt „I'm American“, sagst du hier nach spätestens zwei Jahren Frist: „Ich bin ein Berliner!“ Und zwar, weil sich das so besser, richtiger anfühlt. Berlin ist ein Lebensgefühl, eine Idee. Wer hier wohnt und wohnen bleibt, hat diese Idee gecheckt, der lebt das! So, wie der Hannoveraner seine innere Planwirtschaft und der Hamburger seinen Hang fürs Establishment leben. Vor Berlin warst du eine aufgetakelte Braut? Hier fällt die Schminke schneller von deinem Kiefer, als du „Dickes B“ sagen kannst. Übrig bleibt: Dein Look! Du mit ein bisschen was Extra. Hier bist du, wer du sein willst, nicht, wer du sein sollst.

Hier bist du, wer du sein willst, nicht, wer du sein sollst.

Raus aus der Zwangsjacke, rein in die Macke

Ich habe Macken. Einige. An denen wurde früher immer rumgedoctert. Die Mutter meines ersten Freundes beriet mich, wie ich mich anders benehmen könnte, um besser anzukommen. Meine Freundinnen und Freunde gaben mir Tipps, wie ich dies oder jenes unterlassen oder vertuschen könnte, um nicht anzuecken. Ich wurde dafür angefaucht, dass ich die Wahrheit sage, mein Lachen wurde mir als Schauspielerei vorgeworfen, meine denkende Zeit und Träumerei als Faulheit ausgelegt und mein vieles Reden als Wichtigtuerei angeprangert. An mir war so viel verkehrt, dass ich krampfhaft versucht habe, anders zu sein. Besser natürlich. Hier in Berlin ist das Stück für Stück abgefallen. Meine Falschheit, nämlich zu sein, wer ich nicht bin, ist hier absolut negativ aufgefallen. Das ständige Karussell aus Geld und Titeln und Achievements dreht sich hier so langsam, dass Aufsteigen nicht mal attraktiv ist. Wer als Berliner keine Visionen hat, muss zum Arzt: nicht umgekehrt! Berlin – das ist Freiheit, das ist nackt ankommen und sich aus dem, was man findet, was aufbauen. In Hannover hätten sie Diogenes für verrückt erklärt: In Berlin hätte er einfach sein Ding in der Tonne durchziehen können. In Berlin ist die Tonne ein Feature!

Berlin – das ist Freiheit, das ist nackt ankommen und sich aus dem, was man findet, was aufbauen.
Zurück zur Startseite