Schöner leiden – Warum jeder einen guten Ort zum Heulen haben sollte

© Kerstin Musl

In ihrer Kolumne "Fragen an das seltsame Leben" stellt Autorin Ilona diesem seltsamen Leben Fragen zu den großen, aber vor allem zu den kleinen, meistens ziemlich bescheuerten Rätseln des Alltags. Dieses Mal: Wo ist Weinen am Schönsten?

Es war an der Elbe und ich war acht. Ungefähr, jedenfalls in einem Alter, in dem man weint, weil man keine Pommes bekommt oder hinten sitzen muss oder die Menschheit ein ungerechter Depp ist. Jedenfalls stand ich an den Landungsbrücken und heulte. Erst noch etwas schamvoll und hoffend, dass mich keiner sieht beim Rotz hochziehen. Dann sah ich eine Weile auf den Fluss, während ich weiterheulte und dann wurde etwas anders. Ich fühlte mich plötzlich so erhaben und groß an diesem Wasser, dass gerade grau und schaumig vorbeifloss. Mein eben noch trotziges Heulen wurde mit einem Mal zum Auftritt, denn ich begriff, dass ich die ideale Bühne vor, oder besser: unter mir hatte. Ich heulte also weiter, aber nun in schön. Legte meine Stirn in dramatische Falten und ließ die Tränen erst zu großen Tropfen im Auge wachsen, ehe ich sie über meine leidend verzerrten Wangen in meinen Schal rollen ließ. Nach dem Ende meiner Vorstellung fühlte ich mich toll. Gereinigt, ruhig, würdevoll und ein wenig wie eine reiche Witwe am frischen Grab ihres millionenschweren Gatten. Ich kehrte zurück als gebrochene Frau, gefangen im Körper einer bockigen 8-Jährigen. Dann bekam ich doch Pommes und alles war gut.

Mein Heulen wurde plötzlich zum Auftritt, denn ich begriff, dass ich die ideale Bühne vor, oder besser: unter mir hatte.

Rituelle Flussbeweinung

Zum Glück gab es, zurück in meinem Heimat, auch einen Fluss, den ich beweinen konnte. Der war sehr klein und flach, nicht mehr als ein Bächlein. Ein fröhlich glucksendes Rinnsal mit einem Haufen Algen und schmalen Furten, über die man problemlos mit ein bisschen Anlauf auf die andere Seite hinüberspringen konnte, auf der es genauso wenig zu erleben gab. In meiner Welt war das natürlich aber fortan “der Fluss”, denn meine Fantasie war damals schon recht blühend. In Momenten, in denen mir Unrecht geschah, was im Leben eines Kindes ja ungefähr stündlich passiert, oder wenn ich mich ein wenig elend fühlte oder einfach nur gerührt war von einem Film, einer Musik oder einem Buch, verließ ich das Haus und informierte meine Familie mit den bedeutungsschweren Worten: “Wenn ihr mich sucht: Ich bin am Fluss”. Dann marschierte ich zum Bach mit den Hosentaschen voller Melodramatik und stand ein paar Minuten gerührt am Wasser, bis das große Gefühl wieder aus mir abgeflossen war.

Flüsse sind zielstrebig, sie haben eine Richtung und nehmen alles mit, was man hineinwirft. Auch das, worüber man gerade so heult.

Wie sich später herausstellte, wusste lange niemand, welchen Fluss ich meinte, denn wie gesagt, war es eigentlich ein Bach, den auch jeder so nannte. Jedenfalls hatte ich dort noch so einige gute Weiner. Als ich “Die Gebrüder Löwenherz” zu Ende gelesen hatte zum Beispiel, schluchzte ich so filmreif, dass mich Spaziergänger beinahe mitgenommen hätten zur nächsten Polizei. Als dann der Winter kam und meine Performance zu ungemütlich wurde, stellte ich die theatralischen Ausflüge ein – Drama ja, aber nicht um jeden Preis.

Konditionierte Tränendrüsen

Wenn ich heute richtig gut heulen will, gehe ich immer noch an Flüsse. Flüsse adeln das Weinen und damit auch das Beweinte. Rhein, Donau, Isar und Spree, Seine, Tejo, Themse und Tiber. Überall dort habe ich schon mit meinen Tränen das Süßwasser nachgesalzen. Aus verschiedensten Gründen. Wegen der Liebe oder keiner, vorbeigezogenen Gelegenheiten, bekommenen Chancen, gehabtem Glück oder gekränktem Stolz, dem Sein der Dinge allgemein etc. Im Lauf der Zeit auch immer wegen des Flusses selbst. Klar, aus Faulheit heule ich auch schon mal in der Straßenbahn. Aber da ist es nicht so gut. Jeder sollte einen Ort für seine Tränen haben. Ob das Badezimmer sind oder Sofalehnen oder Kreidefelsen sind,  findet man meist eher zufällig heraus, das kann man sich nicht aussuchen. Ich hätte manchmal auch gerne einen weniger exponierten Heulort, aber so ist es eben jetzt. Meine Tränendrüsen sind jedenfalls fast schon wie ein psychisch labiler Pawlow'scher Hund darauf konditioniert, genau dann anzuspringen, wenn ich zwischen kreischenden Möwen, vorbeiröhrenden Taxis und Touristen, die ihr Gesicht in überteuertes Softeis tauchen, an einem betonierten Ufer stehe. Nicht sehr romantisch, das ist wahr.

Meine Tränendrüsen sind wie ein psychisch labiler Pawlowscher Hund darauf konditioniert, genau dann anzuspringen, wenn ich an einem betonierten Ufer stehe.

Triff mich am Ufer

Es ist trotzdem schön. Das rhythmische Gluckern der Wellen, das Knarzen vertäuter Boote, quietschende Seile im Wind, dazu der Hintergrundlärm der Stadt und wenn ich großes Glück habe, spielt irgendwo noch ein untalentierter Straßenmusikant “Non, je ne regrette rien” dazu. Nein, ich bereue nichts. Ich wäre auch nicht lieber am Meer, obwohl mir das in meiner Jugend sämtliche Emo-Tumblr beigebracht haben. “Wer richtig schön traurig sein will, muss am Meer stehen”, war das Credo. Von wegen. Das Meer ist ein riesiger Langweiler. Ihm fällt den ganzen Tag nichts besseres ein, als unentschlossen vor- und zurückzuschwappen und wenn man den Stöpsel abzieht, bleibt nur Plastik und ein bisschen Piratengold. Wenn man da hineinweint, segelt der ganze Ballast langsam schaukelnd irgendwo hin und strandet im dümmsten Fall ein nur paar Meter weiter.

Flüsse hingegen sind zielstrebig. Sie haben eine Richtung und nehmen alles mit, was man hineinwirft. Auch das, worüber man gerade so heult. Hinfort damit, raus aus dem System, mach doch, was du willst. Ein Fließband für inneren Ballast.  Naja, und am Ende landet der Kram eben im Meer, aber das ist ja mit dem meisten anderen Müll auf der Welt nicht anders.

Flüsse adeln das Weinen und damit auch das Beweinte.
Zurück zur Startseite