Bitte nicht noch mehr beige Vasen – Der große Haken am Minimalismus–Trend

© Jaroslaw Ceborski | Unsplash

Gerade noch war Minimalismus die rettende Insel. Der Notausgang aus dem eigenen Chaos und dem der anderen, der Verwirrung und der Spirale aus Kaufen, Unzufriedenheit und noch mehr Kaufen. Rebellion war eine kahle weiße Wand. Die Uniform des Widerstands war eine Jeans und ein weißes T-Shirt. Nach und nach melden sich nun die ersten Aussteiger der postmateriellen Reformbewegung: Was soll der Quatsch? Zurück zum Maximalismus! Man erschafft auch seine Identität durch die Dinge, die man besitzt, warum sollte man sich in dieser Kategorie beschneiden? Und überhaupt: Chaos ist menschlich, sympathisch, gemütlich. Wir lieben unseren Krempel wieder, jetzt, wo wir ihn hergeben sollen. Schnell eine Aromakerze anzünden, Duftrichtung „Lieber doch nicht“. Auch mir geht Minimalismus mittlerweile gewaltig auf die Nerven – nicht als solcher, sondern das, was daraus geworden ist, seit er zum Trend erkoren wurde.

Rebellion war eine kahle weiße Wand.

Minimalismus ja, Verzicht nein

Wo es mal um Haben oder Sein ging, hat sich der Tenor im Minimalismus 2.0 gewandelt zum kleinlichen Streit um „viel Haben“ oder „nicht ganz so viel Haben“. Wo das Potenzial zu einer grundlegenden positiven Veränderung in unserm Alltagsverhalten vorhanden gewesen wäre, war auch hier die Beschlagnahmung durch die Lifestyle-Industrie schneller. Denn beobachtet man die Darstellung minimalistischen Lebensstils im Netz, hat hier längst die Kommerzialisierung eingesetzt. Wir kaufen gar nicht weniger, sondern nur noch alles in Beige. Unser Besitz und die Beschäftigung damit sind wieder genauso groß und zeitintensiv wie zuvor, nur die Muster auf den Kissen sind jetzt geometrisch. Aber wir fühlen uns doch auch wohl so, es geht schließlich darum, sich nirgends zu quälen durch Verzicht – nicht beim Essen, nicht beim Kaufen, nicht in der Liebe. Ein Hirn wäscht das andere – und wer sich zwischen die Hashtags #minimalism und #selfcare verirrt, stellt fest: die Bewegung frisst sich selbst auf. Sie ist gleichzeitig Medikament und Krankheit und dreht sich folgerichtig im Kreis.

Wir kaufen gar nicht weniger, sondern nur noch alles in Beige.

Der ursprüngliche Gedanke von Minimalismus war mal, sich zu befreien von der Last des Besitzes und die gewonnene Energie sinnvoll und aktiv einzusetzen. Für die eigenen Werte, Ideale und Ziele, für sich selbst oder andere, aber in jedem Fall für etwas anderes als Dekoration der Fensterbank mit Sukkulenten. Nicht jeder Minimalist lebt so, aber die, die sich als Vertreter der Bewegung in sozialen Medien präsentieren, geben allzu einen Lifestyle vor, der das Gegenteil dessen suggeriert, worum es eigentlich geht. Minimalismus scheint viel mehr als ästhetische Stilrichtung wahrgenommen zu werden, denn als Geisteshaltung. Wer ohne Vorwarnung auf einen Minimalismusblog stolpert, denkt sich vermutlich als erstes: Scheiße, ich muss jetzt weiße Vorhänge kaufen und Geschirrtücher bügeln und ständig Staub wischen, damit ich dazugehöre.

Minimalistisches moralisches Bewusstsein

Dieses Beispiel weist auf eine schmerzhafte Schwachstelle hin – denn in einer Hinsicht sind wir durchaus ganz hervorragende Minimalisten: wenn es um die Abwesenheit tatsächlicher Inhalte geht. Mit welcher Leichtigkeit wir da Überzeugungen und Werte über Bord werfen für einen Job, einen Auftrag, einen Like oder einen Klick! Die Passivität und moralische Lethargie, die alldem zugrunde liegt, fängt bereits jetzt an, unserer Generation auf die Füße zu fallen. Füße, die gerade im feinen weißen Sand auf Bali oder wenigstens Rügen stecken, wo man sich gerade vom Davonlaufen vor schlechten Nachrichten erholt. Selbstpflege und Psychohygiene sind der einzige Vollzeitjob, den wir freiwillig ausüben. Aber die Zeit, die wir in die Darstellung dessen stecken, wie bewusst und richtig und minimalistisch wir leben und konsumieren, geht an der Stelle verloren, wo es wirklich mal um etwas geht. Die Dinge, die nicht ironisch, nicht sexy, nicht hübsch oder sympathisch sind – sondern einfach nur die manchmal langweilige, manchmal bittere, aber leider immer wahre und täglich stattfindende Realität.

Selbstpflege und Psychohygiene sind die einzigen Vollzeitjob, den wir freiwillig ausüben.

Da, wo wir in der Welt der Dinge Minimalismus preisen, sollten wir uns in allen anderen Bereichen in Maximalismus üben. Die mühsam gesparte Zeit durch weniger Besitzverwaltung sinnvoll nutzen für das, was einem wichtig ist, Spaß macht und einen mehr lernen und mehr fühlen lässt als symmetrisch angeordnete Blaubeeren auf einer Schüssel Müsli. Stil, persönlicher Geschmack und bestimmte Wertvorstellungen schließen sich nicht gegenseitig aus, aber ein verrutschtes Gleichgewicht führt zu einem Verlust an moralischer Integrität, die eine der Grundvoraussetzungen für eine funktionierende, offene Gesellschaft ist. Und während eines Atomkrieges interessiert sich ohnehin niemand mehr für unsere staubfreie Katalogwohnung in Naturtönen.

Zurück zur Startseite