Im Schrebergarten ist die Welt noch in Ordnung

© Norman Poznan

von Judith Poznan

Meine Großeltern hatten einen Garten in einer Kleingartenanlage. Also einen, der ganz klein war. Einen, der tief im Osten Berlins lag, dahinter gab es nichts außer Brandenburg. Dort schien die Welt noch im Lot und alles andere weit weg.

In der Kleingartenanlage, in der ich früher als Kind mit dem Fahrrad den Akazienweg runtergedüst bin, reihte sich eine Parzelle an die nächste. Die Zäune ragten brav hoch zum Himmel, trennten, was Erde verband und an jedem Eingangstor prangte ein Schild, auf dem irgendwas mit Lebensgefahr stand. Ob sich ein Einbrecher jemals davon beeindrucken ließ, kann ich heute nicht mit Sicherheit bestätigen. Meistens handelte es sich bei der Lebensgefahr um kleine, kläffende Malteser, mit dem leidenschaftlichen Versuch, ein Leckerli zu ergattern.

Ihre Besitzer, man kannte sie in der Innenstadt nur vom Hörensagen, waren sechzigjährige Kleingärtner mit Namen wie Ruth oder Horst, die sich nicht viel aus Stress, Lärm oder Schienenersatzverkehr machten. Cocktails kannte man nur als Sauce aus Flaschen, die auf ein schön halbverkohltes Stück Rind geträufelt und anschließend zufrieden mit einer rot-weiß gepunkteten Kunststoff-Gabel verspeist wurden. Hunde, Schilder und RTL Exklusiv, das mochte man. Und während wir zuhause in Moabit gerade mal ein kleinlautes Hallo für unsere Nachbarn übrig hatten, stellten sich die Kleingärtner oft stundenlang an ihre Zäune, um, – nun ja –, wichtige Kleingarten-Dinge zu besprechen.

Alles in Ruhe, so sollte es sein. Immer, immer alles in Ruhe.

© Norman Poznan

Zwischen Bundeskleingartengesetz und getrimmter Rasenkante

Um die Pfeiler der Ruhe zu setzen, brauchte es Rücksicht. Dafür gab es extra einen Vorstand, ein Haus für den Vorstand, ein Buch von dem Vorstand, mit Regeln für den Vorstand und allen anderen, die nicht im Vorstand waren. Mein Großvater erklärte mir immer, dass es viele Arten gäbe, seinen Rasen falsch wachsen zu lassen, was mir damals einleuchtete. Man musste eben herausfinden, wie etwas richtig war. Jedenfalls, laut Bundeskleingartengesetz, dem Zentrum des kleingärtnerischen Rationalismus, musste mindestens ein Drittel der Gartenfläche zum Anbau von Obst oder Gemüse genutzt werden. Nur grüner Rasen wäre Rebellion gewesen, ein Baum, der nicht mindestens zwei Meter vom Zaun wuchs, pure Anarchie. Es gab so viele Regeln, dass selbst die mickrigsten Säcke Reis in China reihenweise explodierten.

Nie wieder brachte ich für etwas so viel Leidenschaft auf wie für das Schneiden der Rasenkante an unserer Einfahrt.

Für uns Kinder waren die Wochenenden in der Kleingartenanlage trotzdem das Paradies aller buddelnden Vorstellungen, in dem man sich Füße und Hände schmutzig machen durfte. Schaufel, Schubkarre, Säge, sowas. Ich hatte einen eigenen Apfelbaum. Und eine Gartenschere, auf der mein Name stand. Nie wieder brachte ich für etwas so viel Leidenschaft auf, wie für das Schneiden der Rasenkante an unserer Einfahrt. Das Geräusch der Gartenschere, der Anblick des grün gefüllten Eimers und schließlich die lobenden Worte meiner Großmutter. Selbst der sonst so grimmig schauende Nachbar nickte vergnüglich, in seinen Gartenstuhl gelehnt, über das kleine Mädchen, das die Regeln verstand.

© Norman Poznan

Kein Herz für Spießigkeit

Einige Ernten später, ich war schon über 1,60 groß, hielt ich nicht mehr viel von der Idee, mich schmutzig zu machen. Oder weiter mit einem Zollstock die Rasenkante zu schneiden. Ich wurde modern. Mein neuer Weltgeist kollidierte mit dem spießigen Kleingeist der rund 300 Parzellen. Ich ließ die Kleingartenanlage hinter mir. Und mit ihr meine Kindheit.

Noch viel später fing ich damit an, meine Wochenenden vor irgendeiner Friedrichshainer Tür zu stehen, mit Zigarette im Mund und heruntergesetzten H&M-Schuhen an den Füßen, um am Ende durchzugehen und in einer überfüllten, aber durch und durch hippen Raucherkneipe Schnaps zu trinken.

So ist es, die Freiheit bestellt Schnaps und lässt die Asche auf den Boden fallen.

Zurück auf dem Boden der Erinnerung

Aus einer Laune heraus besuchte ich neulich die Kleingartenanlage meiner Großeltern. Einfach so. Mittlerweile waren meine Großeltern gestorben, aber ihren Garten gab es noch. Ich setzte mich in die S-Bahn Richtung Wartenberg, wechselte anschließend in den Bus und befand mich nach nur 30 Minuten zurück an dem Ort meiner Kindheit. Fast nichts hatte sich verändert. Es kam mir so vor, als wäre alles von der Zeit verschont geblieben. Warnschilder, kläffende Malteser, selbst die verdammten Mülltonnen standen immer noch mittwochs bereit zur Abholung. Ich spazierte weiter den Akazienweg hoch, Richtung unserer ehemaligen Parzelle 197. Dort angekommen, auch alles wie früher.

Dann erhaschte mein Blick den Apfelbaum, den ich immer noch stolz mein eigen nannte und der immer noch exakt zwei Meter vom Zaun entfernt stand. Groß und schön sah er aus, mein Apfelbaum. Ruhe überkam mich. Wie eigenartig das war.

© Norman Poznan
Zurück zur Startseite