Ich hab doch kein Alkoholproblem, nur weil ich jeden Tag trinke
Machen wir uns nichts vor. Es ist der schönste Moment des Tages. Wenn man die Tür des Jobs hinter sich ins Schloss fallen lässt. Wenn alle Meetings vorbei sind. Wenn die kurzen Stunden beginnen, in denen man Privatperson sein darf. Die Kinder im Bett. Die Kollegen am anderen Ende der Stadt. Der Chef am anderen Ende der Welt. Und dann der erste Schluck aus der Flasche.
Ich trinke jeden Tag. Manche finden das krass. Ich nicht. Ich finde das völlig normal. Trinken ist Leben. Dabei kann ich nicht mal sagen, wann ich das letzte Mal betrunken war. Und meine Erinnerung funktioniert einwandfrei. Ich besaufe mich einfach nicht gern. Das interessiert mich nicht so. Und der Kater schränkt zu sehr ein. Obwohl er auch reizvoll sein kann. Vor allem, wenn man ihn dann soweit im Griff hat, dass man wieder ein Konterbier trinken kann. Das ist wie eine gewonnene Schlacht. Ein Sieg über den unbarmherzigen Alltag.
Trinken ist Leben
Ich bin ein glücklicher Mensch. Ich arbeite zuverlässig. Habe etwas gefunden, in dem ich mich selbst verwirklichen kann. Bin ganz erträglich für die, die mich lieben. Habe famose Freunde. Ich bin mit mir selbst im Reinen. Und trotzdem kommt es oft vor, dass ich abends gefickt bin von dieser Stadt. Von der U-Bahn. Von all den Menschen. Weil man ständig irgendwelche Fleißaufgaben zwischen die Beine geschmissen kriegt. Arzttermine. Termine beim Amt. Waschmaschine kaputt. Hausverwaltung nicht zu erreichen.
Trinken hilft. Weil es einen angemessenen Abstand schafft zu diesen Widrigkeiten. Ich rede hier nicht von echten Problemen. Die lassen sich nicht verdrängen. Da muss man was tun. Am besten nüchtern. Nein, ich rede von den Widrigkeiten des Alltags. Von Schienenersatzverkehr. Oder wenn die Krankenversicherung sagt, man wäre seit drei Jahren nicht versichert. Sowas muss man verdrängen. Weil es nicht wichtig ist. Da könnte ja jeder kommen.
Ich bin mit mir selbst im Reinen. Und trotzdem kommt es oft vor, dass ich abends gefickt bin von dieser Stadt.
Im einen Moment ist alles in bester Ordnung. Und dann klingelt das Telefon, am anderen Ende irgendein Spinner, der einem mitteilt, dass vor tausend Jahren ein Beitrag nicht richtig eingezogen wurde und man deswegen jetzt blechen muss. Oder dass der Vermieter Eigenbedarf anmeldet und man sich eine neue Wohnung suchen soll. Da muss man knallhart sein. Und einfach auf Durchzug schalten.
Versteht ihr, was ich meine? Warum soll man jede Realität annehmen? Es gibt so viele davon. Und die Realität, bevor das Telefon mir eine Hiobsbotschaft überbracht hat, war so viel angenehmer. Ich lass mich doch nicht verrückt machen. Wenn man nämlich springt, so wie die es von einem verlangen, dann setzen sie sofort nach. Dann hat man nie wieder Frieden. Meistens löst sich eh alles in Wohlgefallen auf. Von allein.
Soll das eine Glorifizierung von Alkohol sein? Ja.
Man muss einfach viel gelassener sein. Und wie geht das am besten? Genau. Mit einem tüchtigen Schluck in der Birne. Der legt einen sanften Nebel über die Nervenenden. Dann sieht man gleich viel besser aus. Nicht so verbissen. Erhöht auch augenblicklich die Lebensqualität eurer Mitmenschen.
Soll das eine Glorifizierung von Alkohol sein? Ja. Wie gesagt, ich rede hier nicht zwangsläufig von Besäufnissen. Da kriegt man ja gar nichts mehr mit. Und verliert auch jeden Esprit. Muss doch nicht sein. Lieber ein sanfter Pegel. Damit man Ruhe ausstrahlt im brüllenden, rasenden Kosmos.
Obwohl ein Besäufnis auch wunderbar sein kann. Einfach mal loslassen. Vielleicht nicht unbedingt an Silvester. Ich will nicht spießig klingen, aber an Silvester zu trinken ist einfach asozial. Da trinkt jeder. Ekelhaft ist das. Und vollkommen stillos.
Die europäische Idee: Leicht einen sitzen und keine Termine
Ich trinke nicht an Silvester. Aber an jedem anderen Tag. Hab ich deshalb ein Alkoholproblem? Ich glaube nicht. Trinken ist Leben. Joie de vivre. Und bei weitem nicht so irre, wie Sport zu treiben. Oder sich stocknüchtern und verbiestert von den Turbulenzen des Lebens herumschubsen zu lassen. Trinken ist das, was unsere Kultur wirklich ausmacht. Die europäische Idee: Leicht einen sitzen und keine Termine. Prost.