Frische Luft statt MDMA – Frühling ist die beste Droge
Das ging schnell: Vor Kurzem noch war tiefster Winter und plötzlich sitzen wir wieder draußen und trinken Apérol Spritz und andere Mischgetränk-Irrtümer, die zu keiner anderen Zeit des Jahres funktionieren. Was ist passiert? Ganz einfach: Der Frühling hat Berlin eingehüllt und in ein Wunderland aus blühenden Kirschbäumen, zärtlichen Temperaturen um die 20 Grad und klarem Himmel verwandelt. Grummelige Berliner*innen lächeln freiwillig fremde Menschen an, man kauft automatisch wieder diese Kressekästchen im Supermarkt und auch ansonsten drehen alle ein bisschen durch. Klare Sache: Der Frühling ist nichts weniger als eine legale, wenngleich ziemlich starke Droge.
Der Frühling ist ein Defibrillator für wintergebeutelte Berliner*innen
Man kann uns die saisonale Euphorie ja auch nicht verdenken: Der Berliner Winter dauert jedes Jahr gefühlt zwei Jahre. Jeder Tag ist ein Überlebenskampf zwischen Rollsplit, Blitzeis und Verbrennungen zweiten Grades an der Zunge, weil der heiß dampfende Kaffee allzu verlockend und wärmend aussah. Wenn da Ende März zum ersten Mal wieder dieser gelbe Ball am Himmel steht, von dem man zuletzt aus wehmütigen Erzählungen der Dorfältesten gehört hat, führt das unweigerlich zu einem ungeahnten, schwindelerregenden Hochgefühl. Der Körper signalisiert: "Ich bin bereit! Nimm mich, Frühling! Hier und jetzt!" – Fenster auf, Kopf auf, Abfahrt.
Der Frühling verpasst uns innerhalb weniger Tage den so dringend nötigen, lebensspendenden Energieschub in Form von Sonnenlicht, Vogelzwitschern und Zitroneneis.
Denn Frühling ist so eine Art Defibrillator für wintergebeutelte Berliner*innen. Er verpasst uns innerhalb weniger Tage den so dringend nötigen, lebensspendenden Energieschub in Form von Sonnenlicht, Vogelzwitschern und Zitroneneis, der unseren heruntergefahrenen Organismus aus dem Stand-By-Modus erweckt. Die wirklich wichtigen Fragen sind fortan nicht mehr "Eine oder zwei Strumpfhosen?" oder "Wie viel Liter Glühwein bräuchte ich für ein Vollbad?" Ab sofort geht es nur noch um "Waffel oder Becher?" und welche Straßenseite die sonnigere ist.
Der Frühling ist die Jahreszeit der Premieren
Im Frühling verdoppelt sich in Berlin gefühlt die Anzahl der Bewohner*innen, Radfahrer*innen, Hunde und Kinderwägen, während sich die verfügbare Freifläche in Parks und Sitzplätze in Cafés halbiert. Der Berliner Wohnungsmarkt ist ein Witz gegen die hoffnungslose Suche nach einer freien Schaukel an einem sonnigen Sonntag im Prenzlauer Berg. Die Schlangen vor Eisdielen sind länger als die vor den Clubs und wo zwischen Mitte und Neukölln auch bei Minusgraden Sneakers ohne Socken getragen wurden, ist die Haut an den Knöcheln jetzt immerhin nicht mehr graublau, sondern unschuldig weiß. Schuldig rot hingegen sind meistens Nase, Stirn oder Nacken, denn ja, auch jetzt kann man sich durchaus schon einen Sonnenbrand holen.
Der Berliner Wohnungsmarkt ist ein Witz gegen die hoffnungslose Suche nach einer freien Schaukel an einem sonnigen Sonntag im Prenzlauer Berg.
Der erste Sonnenbrand des Jahres reiht sich damit ein in die lange Liste von Premieren, die der Frühling mit sich bringt: das erste Mal bei der Eisdiele, das erste Mal Grillen, das erste Mal bei offenem Fenster schlafen, das erste Mal den Regenschirm vergessen (und es bitter bereuen), das erste Mal ohne Jacke raus, das erste Mal Open Air gefeiert. Beim Anblick von Lieferando-Fahrer*innen und Radkurieren schwenken die Gedanken von "Die Armen, bei dem Wetter Rad fahren!" um zu "Manno, ich wäre auch gerne den ganzen Tag draußen!", Landschaftsgärtner*innen scheint eine erstrebenswerte Zweitkarriere und "Club Tropicana" rückt ganz unbemerkt auf die obersten Plätze der Playlist der meist gehörten Songs.
Frühling statt MDMA für kostenlosen, wochenlangen Rauschzustand
Ja, man muss weder Biochemie noch Psychologie studiert haben, um zu merken, dass der Frühling auf den menschlichen Körper genauso euphorisierend wirkt wie frisch verliebt sein oder chemische Rauschmittel. Also wozu noch MDMA nehmen, wenn es draußen den Frühling gibt? Er ist die günstigste Droge von allen, der Rausch hält wochenlang, man kommt heil durch jede Polizeikontrolle und wenn der ganze Zauber mit den blühenden Magnolienbäumen vorüber ist, folgt der nicht weniger wunderbare Frühsommer als Ausstiegsdroge. Gut, manchmal stellen sich die Schmetterlinge im Bauch als Magen-Darm-Virus heraus, aber keine Wirkung ohne Nebenwirkung, nicht wahr?
Ansonsten aber sollten wir uns ungehemmt dem Rausch hingeben. Den Frühling mit offenen Armen, Augen, Nasen empfangen und uns nicht über demonstrativ verknallte Pärchen im Park aufregen, sondern einfach einen der beiden antippen und fragen, warum sie oder er einen gestern Nacht nicht genauso leidenschaftlich geküsst hat. Dann schnell wegrennen und die empfohlene tägliche Portion Speiseeis verzehren.
Was die wohl genommen hatten? Vermutlich unter anderem eine große Portion Berliner Frühling.
Als ich neulich zum Beispiel an einem Bilderbuchsonntag einen Spaziergang machte, sah ich zwei junge Frauen, die sich an eine kleine Steinmauer gelehnt im letzten Fleck Abendsonne vom Feiern erholten. Sie lagen sich in den Armen, lachten, erzählten sich leise mit glänzenden Augen Geschichten der Nacht. Eine stand schließlich auf und tanzte zur Musik in ihrem Kopf in Zeitlupe. Was die wohl genommen hatten? Vermutlich unter anderem eine große Portion Berliner Frühling.
Ilona Hartmann