Ein Jahr nach dem Anschlag: Berlin hat sich nicht einschüchtern lassen

© Matze Hielscher

Als der Attentäter Anis Amri vor genau einem Jahr mit einem geraubten LKW quer über den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz fuhr und mit dieser Irrsinnstat zwölf Menschen in den Tod riss, war ich gerade für meinen Weihnachtsurlaub in der Karibik angekommen. Die Horror-Nachricht schockte mich auch hunderte Kilometer entfernt und verursachte tiefe Betroffenheit. Lange sah ich mir die Bilder an, die Schneise der Gewalt, die sich mitten durch das Leben gezogen und neben vielen Toten noch viel mehr Verletzte hinterließ. Neben meinen Gastgebern sitzend erzählte ich ihnen von dem Anschlag, der die Hauptstadt, meine Heimatstadt, buchstäblich wie im übertragenen Sinne im Herzen getroffen hatte.

Über dem Geruch von Glühwein lagen plötzlich Wut, Trauer und Ohnmacht

Rückblickend weiß ich nicht, ob meine Gastgeber die Bedeutung dieser ins Herz schneidenden Attacke auf die Freiheit unseres Lebens verstanden. Islamistisch motivierte Anschläge waren und sind ihnen genauso fremd wie kalte Wintertage oder der Geruch von Glühwein, über dem nun plötzlich Wut, Trauer, Ohnmacht und ja, auch Angst lagen. Später erzählten sie mir, dass die Meldung nun auch in ihrem lokalen Fernsehsender ausgestrahlt wurde. Dass der Anschlag vom Breitscheidplatz selbst im entferntesten Winkel der Erde eine Nachricht wert war, zeigte die ganze Brisanz des Geschehenen.

© Kerstin Musl

Anschläge kannte das Gros der Deutschen, kannten die Berliner, bisher nur aus anderen Teilen der Welt, aus New York, London, Madrid, Brüssel oder Paris. „9/11“ und „Bataclan“ sind nur zwei von vielen Begriffen, die sich im kollektiven Gedächtnis eingeprägt haben. Dass ein islamistisch motivierter Terrorakt auch uns treffen könnte, das hielt kaum einer für möglich – zumindest mochte keiner darüber nachdenken. Und auf einmal traf es auch uns, mit voller Wucht, ohne Vorwarnung. Einfach so.

Ein mit Bronze gefüllter „Riss“, eine Narbe, die bleibt

Heute, auf den Tag genau ein Jahr später, sitzt der Schock noch immer tief – nicht nur bei den Angehörigen der Opfer, den Verletzten, den Überlebenden, sondern auch bei den Berlinern. Der Breitscheidplatz ist nicht mehr das, was er einmal war. Die Unbeschwertheit der vergangenen Jahre ist verflogen. Wer heute auf den Weihnachtsmarkt geht, trifft zwar immer noch Glühweinstände, Crêperien und Bratwustbrutzler an, doch ein bitterer Beigeschmack bleibt. Die Polizeipräsenz ist sichtbar erhöht, Betonpoller umgeben den Markt. Dazu erinnern Kerzen und Blumen an den Anschlag. In den kommenden Tagen werden viele Berliner erstmals das neue Mahnmal sehen. Ein mit Bronze gefüllter „Riss“, der über die Stufen der Gedächtniskirche führt. Eine Narbe, die bleibt, so wie die Namen der Opfer, die in die Stufen gemeißelt wurden.

© Matze Hielscher

Es heißt, Narben verheilen nie. Sie bleiben für immer, manchmal blenden wir sie aus, manchmal erinnern sie uns schmerzlich an das Erlebte. Es wird noch einige Zeit dauern, ehe die Narbe aufhört, unaufhörlich zu pochen. Zu viele Fragen sind auch nach einem Jahr noch unbeantwortet: Wie konnte Amri seine Tat eiskalt durchziehen? Warum gab es so viele Ermittlungspannen? Warum erfuhren die Opfer von öffentlicher Seite so lange Zeit keine Solidarität? Es sind befriedigende, nachvollziehbare Antworten, auf die wir noch immer händeringend warten. Erklärungen, die längst überfällig sind.

Angst ist in Berlin heute nicht spürbar

Daneben bleibt ein mulmiges Gefühl. Ist es Angst, wie sie sich in den ersten Stunden, den ersten Tagen in vielen von uns breitmachte? Nein, Angst ist in Berlin heute nicht spürbar. Die Weihnachtsmärkte scheinen so voll wie nie zuvor, selbst auf dem Breitscheidplatz treffen sich wieder Menschen ganz ohne Gedanken an den Anschlag, um einen Glühwein zu genießen oder einen Crêpe zu essen.

Wir haben uns nicht einschüchtern lassen. Wir werden uns nie einschüchtern lassen. Der Schmerz, er sitzt tief. Unsere Anteilnahme gehört den Angehörigen der Opfer, den Überlebenden, den Rettern und Helfern, die bis heute mit den Folgen leben müssen. Ihr Schmerz ist unsere Narbe. Doch es ist nur eine kleine Narbe im großen Berlin, das noch immer ein Ort der Freiheit ist. Das immer frei sein wird. Das ist unsere Hoffnung. Ein für allemal.

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