Ein Date mit meiner Stadt – Wie ich gelernt habe, mich in Berlin wieder treiben zu lassen

© Sophie Bengelsdorf

In eine neue Stadt zu ziehen ist aufregend wie eine neue Liebe. Man verbringt die ganze Zeit zusammen, will alles über den anderen wissen und am liebsten niemals schlafen, um auch ja nichts zu verpassen. Doch wie in den meisten Beziehungen lässt der Zauber nach einer Weile nach. Die Lichter der Großstadt leuchten nicht mehr so hell wie am Anfang und irgendwann lebt man nur noch nebeneinander her, bis man sich schließlich kopfschüttelnd fragt, wie alles eigentlich so weit kommen konnte. Selbst in einer Stadt wie Berlin kann man sich so fühlen, als hätte man alles schon einmal gesehen, obwohl das natürlich niemals stimmt. Unsere eigene Routine und Bequemlichkeit steht uns im Weg, wenn wir irgendwann nur noch stur geradeaus auf den Trampelpfaden unseres Alltags laufen, ohne darauf zu achten, wie sich die Welt um uns herum verändert. Spätestens dann ist es an der Zeit, auszusteigen, die Zeit zu vergessen, sich treiben zu lassen.

Ich widmete meine ersten Wochen an der Uni dem Studium des BVG-Streckennetzes.

Als ich für mein Studium nach Berlin zog, fand ich mich nur in einem Bruchteil von Mitte, Kreuzberg und Friedrichshain zurecht. Dazwischen und drumherum lauerte ein riesiges schwarzes Loch. Ich nahm die Herausforderung an und widmete meine ersten Wochen an der Uni dem Studium des BVG-Streckennetzes, bis ich in der Lage war, die Abfolge sämtlicher Stationen des Rings mit und gegen den Uhrzeigersinn fehlerfrei zu rezitieren. Zwischen den Seminaren stieg ich am Bahnhof Friedrichstraße in irgendeine S-Bahn, fuhr bis zur Endhaltestelle und wieder zurück. Meine Expeditionen führten mich nach Pankow, Spandau, Erkner oder ins Märkische Viertel. (In letzteres nur, weil ich wissen wollte, ob dort wirklich nur Penner, Nutten und Dealer unterwegs sein würden, wie einst von einem berühmten deutschen Rapper propagiert, doch in Wirklichkeit sah die Hochhaussiedlung eigentlich ziemlich harmlos aus.)

Ein Leben als neugieriger Dauertourist

Während wir an der Uni über Walter Benjamin und die Figur des Großstadtflaneurs diskutierten, ohne uns dabei vom Fleck zu bewegen, lief ich so viel zu Fuß, wie ich konnte, bis sich das schwarze Loch irgendwann in ein Netz aus Kiezen und Straßen verwandelt hatte, in dem ich mich bald mühelos zurecht fand. Zwei Jahre lang führte ich ein Leben als Dauertourist, fuhr mit dem Boot die Spree entlang und mit dem Rad nach Potsdam, stieg auf die Aussichtsplattform des Berliner Doms, spazierte durch den Grunewald und verbrachte halbe Tage am Maybachufer oder auf der Sonnenallee. Der große Luxus, anstatt eines Acht-Stunden-Arbeitstages jede Menge Zeit zu haben, ließ mich die Stadt entdecken, wie ich es sonst niemals geschafft hätte. Wenn ich kein Geld hatte, lief ich einfach ziellos durch die Straßen. Die Stadt war mein Kino, mein Theater und mein Konzert. Ich bemitleidete jeden, der eingepfercht in einem Büro vor dem Schreibtisch sitzen musste und die Stadt nicht sehen, hören und fühlen konnte, wie ich es tat – bis auch mich irgendwann der spielverderberische Ernst des Lebens erwischte.

Die Stadt war mein Kino, mein Theater und mein Konzert.

Der Arbeitsalltag als Spielverderber

Ein Jahr nachdem ich meinen ersten „richtigen“ Job angefangen hatte, merkte ich plötzlich, dass sich mein Leben tatsächlich nur noch in meinem Kiez abspielte. Nach der Arbeit fuhr ich meistens direkt nach Hause, weil ich zu müde war, noch über Umwege mit der Bahn zum Tegeler See oder zur Krummen Lanke zu fahren, zumal Bahn fahren zu einer Uhrzeit, um die ein Großteil der arbeitenden Stadtbevölkerung ebenfalls Feierabend hat, ohnehin keinen Spaß macht. Ich ging jeden Morgen den gleichen Weg zur U-Bahn und stellte fest, dass die Stadt anfing, mich zu langweilen, während ich in der Bahn darüber nachdachte, dass vielleicht jetzt der Zeitpunkt gekommen sei, endlich nach Leipzig oder am besten gleich ins Ausland zu ziehen. Abends sah ich im Fernsehen eine Reportage über den Wedding und stellte fest, dass ich seit über einem Jahr nicht dort gewesen war und das es abgesehen davon, immer noch eine Menge blinder Flecken auf meinem persönlichen Stadtplan gab, die es zu entdecken galt.

Ein Date mit der eigenen Stadt

Statt meine Umzugspläne weiter zu verfolgen, fuhr ich am nächsten Tag zur Seestraße, irrte zwei Stunden durch den Wedding und legte mich auf eine Wiese im Humboldthain. Seitdem gönne ich mir mindestens einmal die Woche ein Date mit der Stadt, fahre unnötige Umwege mit der U-Bahn, lasse mich treiben, zähle auf dem Heimweg die übergroßen Glühbirnen in den schicken Cafés in der Weichselstraße oder die Dealer im Görli Park, denn keine lange Beziehung kann funktionieren, ohne dass man bereit ist, auch etwas zu investieren. Zum Beispiel Zeit, und erst recht dann, wenn man vor lauter Stress glaubt, überhaupt keine zu haben. Das gilt für die Liebe genauso wie für die Stadt, in der man wohnt und in die man irgendwann einmal aufgebrochen ist, weil dort alles neu und spannend und aufregend war.

Keine lange Beziehung kann funktionieren, ohne dass man bereit ist, auch etwas zu investieren. Das gilt für die Liebe genauso wie für die Stadt, in der man wohnt.
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