Die heilende Wirkung von Bioläden auf labile Großstädter

© Big Lebowski

Heute war ich traurig. Das ist nicht neu, das geht schon eine Weile so, aber der Achtsamkeitstherapeut am Kollwitzplatz hat erst im August wieder freie Termine und so lange möchte ich nicht warten. Deswegen gehe ich in den Bioladen. Da bezahlt man pro Stunde auch ungefähr 80 Euro und danach fühlt man sich angenehm weltfremd und ein bisschen umwölkt vom Lavendelraumduft – und man will unbedingt Massage-Öl kaufen. Also gehe ich heute in den Bioladen, um meine 50-minütige Sitzung zu absolvieren.

Dieser Geruch. Man kommt rein und er ist sofort da. Seit Jahrzehnten riecht es im Bioladen genau gleich und seit Jahrzehnten hat dieser Duft auf mich sofort eine beruhigende, ausgleichende Wirkung. Ich kann bis heute nicht genau sagen, woraus er besteht, aber Bioläden sind für mich wie ein Riechfläschchen mit Schiebetür. Leicht süßlich, würzig, nach Tee, Kernseife, Wolle, Heu und manchmal, hier im Prenzlauer Berg sogar ziemlich oft, mischt sich in die Kopfnote auch ein bisschen Babykotze. Das Licht ist warm, die Regale sind aus Holz, die Papiertüten rascheln wie eine Sonntagszeitung beim Frühstück. Meine Sinne entspannen sich sofort und ich atme zum ersten Mal an diesem Tag tief in den Bauch.

Seit Jahrzehnten riecht es im Bioladen genau gleich: leicht süßlich, würzig, nach Tee, Kernseife, Wolle, Heu & manchmal mischt sich in die Kopfnote auch ein bisschen Babykotze.

Es läuft meistens keine Musik, das ist auch mal ganz schön. Ruhe ist wichtig, das würden auch Therapeuten sagen. Einfach mal die Stille genießen, das verlernt man ja so schnell in dieser wummernden Großstadt. Wobei, Bioladen-DJ wäre vielleicht ein Beruf, der mir gefallen könnte. Ich würde den ganzen Tag Cat Stevens spielen, dazu ein wenig Barclay James Harvest, das erste Album von Bon Iver und alles von Nick Drake – väterlich tröstender Folk eben. Zur Auflockerung etwas Klugpop, Sophie Hunger, Midlake oder Blumfeld oder sowas, Dirk von Lowtzow soll sich ja auch wohlfühlen hier. Einmal pro Stunde würde sich vermutlich jemand Heinz Rudolf Kunze oder Joni Mitchell wünschen. Lehne ich ab, da kann ich gleich das Nein-Sagen üben. Als Rausschmeißer dann: Baccara. Alle finden es unironisch lustig und die letzten Kunden tanzen mit den Mitarbeitern Polonaise um den Probierstand vom Lupinen-Aufstrich. Yes sir, I can bio.

Der Bioladen ist ein schnellwirksames Beruhigungsmittel.

Wenn ich zur Therapiestunde in den Bioladen gehe, nehme ich aus Höflichkeit auch immer ein Einkaufskörbchen, auch wenn ich gar nicht vorhabe, etwas zu kaufen. In manchen Bioläden sind sie noch aus Metall, in vielen aber auch aus Plastik mit einer geschwungenen Seite, damit sie sich besser an die Beine anschmiegen können – richtige Kuschelkörbchen sind das. Draußen, im harten Alltag, stößt man sich schon genug die Schienbeine blau. Hier nicht, denn der Bioladen will nicht, dass mir etwas weh tut.

Wie im Supermarkt geht man auch im Bioladen zuerst durch die Obst-und Gemüseabteilung. Hier dürfen alle so sein wie sie sind, mit all ihren Schrullen: knubbelige Kartöffelchen, überspannte Salatgurken, schrumplige rote Beten. Der Fenchel hat ganz schön viele Macken, wenn ihr versteht, was ich meine. Keiner von ihnen ist perfekt, das mag ich. Lila Möhren sind im Angebot, Sorte „Purple Haze“. Ich nehme welche mit, vielleicht wird man davon ein bisschen stoned. Könnte ich gut vertragen heute. In einem kleinen Weidenkörbchen liegen lose große getrocknete Datteln. Das finde ich unhygienisch, lasse ich liegen. Naja, die Konfrontationstherapie mit meiner Bakterien-Neurose klappt noch nicht so gut.

Lila Möhren sind im Angebot, Sorte 'Purple Haze'. Ich nehme welche mit, vielleicht wird man davon ein bisschen stoned. Könnte ich gut vertragen heute.

Lieber weiter zum Tee. Da klingen schon die Namen so verheißungsvoll, dass mir ganz warm wird. „Abendwonne“, „Glücksgefühl“, „Ruhe & Einklang“ – ja, bitte! Ich nehme gleich zwei Packungen „Lebensfreude“ und dann noch „Flügel des Lebens“, das klingt spirituell – zusammen mit den Purple-Haze-Karotten ergibt sich daraus vielleicht eine spannende Sinneserweiterung. Kaffee gibt es in diesem Gang auch, aber ich weiß, dass ich davon nicht zu viel trinken sollte, sonst werde ich zu nervös. Auf den Packungen sieht man Fotos von glücklichen Kaffeebauern in Guatemala und sie lachen ganz froh. Das finde ich sehr schön. Ich lege vorsichtig eine Packung entkoffeinierten Schonkaffee mit dem Bild nach oben in das geschwungene Kuschelkörbchen und fühle mich schon ganz achtsam. Der Bioladen ist ein schnellwirksames Beruhigungsmittel.

Der Bioladen als Schutzreservat für die labile Elite

Wegen des Kaffees fällt mir auch gleich Milch ein, die ist im nächsten Gang. Eine ganze Wand voller Tetra-Packs. „Schützt, was gut ist“, war mal deren Werbespruch und ich finde, das passt auch zu einem Bioladen. Der schützt, was gut ist, und wenn von draußen die labile Elite hereinstolpert, dann schützt er die auch, solange sie sich in ihm aufhalten. Es gibt viel Auswahl und ich kann mich nicht entscheiden. Jetzt bräuchte ich jemanden, der mir hilft, meine innere Stimme besser zu hören oder meine Impulse zu verbalisieren. Wonach fühle ich mich? "Reis-Soja-Drink + Calcium“ oder „Mandelmilch ungesüsst“? „H-Milch 1,5 % Fett“? Auf einer kleinen unscheinbaren Packung mit 0,5L Ziegenmilch ist tatsächlich eine kleine Ziege abgebildet. Sie steht auf einer Wiese und hat große dunkle Augen und leicht rosa Lippen, Hörner und Hufe. Ich fahre sanft mit meinem Finger den Rücken der kleinen Ziege entlang. Soll ich sie mitnehmen? Hinter mir räuspert sich eine Mitarbeiterin. Ich lasse die Ziege zurück.

Wonach fühle ich mich? Reis-Soja-Drink + Calcium oder Mandelmilch ungesüsst? H-Milch 1,5 % Fett?

Der Bioladen schweigt und versteht

Bevor sie noch etwas sagen kann, gehe ich lieber weiter zum Kühlregal. Das Schöne am Bioladen ist ja, dass hier selbst die Kühlregale nicht so kalt sind. Im Supermarkt bekommt man immer sofort einen Schnupfen, wenn man länger davor steht und vergleicht, welcher laktosefreie Frischkäse laktosefreier ist. Aber hier kann man es gut aushalten und durch die Geschichten schmökern, die die Fleischersatzprodukte von der weiten Welt erzählen. „Räuchertofu Schwarzwald“ gibt es und auf der Verpackung sind natürlich schwarze Tannen. Das „Soja-Schnetzel Gyros Art“ zeigt einen Serviervorschlag mit Griechenland-Flagge und beim „Veggie-Bratstück Andalusien“, das durch Tomate und Paprika feurig rot ist, galoppiert ein weißer Lipizaner durch meinen Kopf. Wahrscheinlich muss ich jetzt auch deswegen an Pferde denken, weil meine Mutter früher eines hatte, als ich klein war. Einmal ist es durchgegangen, während ich draufsaß, aber ich bin nicht runtergefallen. Alle waren schockiert und stolz gleichzeitig, eine emotional ziemlich schwierig zu erfassende Situation, wenn man sechs Jahre alt ist. Ein richtiger Therapeut könnte dazu jetzt bestimmt was sagen, aber der Bioladen schweigt und versteht. Finde ich auch gut so, man kann nicht immer nur über die Kindheit reden.

Ein Mann geht an mir vorbei, ein schöner Mann. Einer, dem man schon von hinten ansieht, dass er auch von vorne sehr gut aussieht. Er greift zielstrebig ins Regal, er ist nicht so entscheidungsschwach wie ich. Er hört seinen Impuls, er übersetzt die Signale seines Körpers. Sie sagen „Frische Vollmilch mind. 3,8% Fett, braune Glasflasche mit Schraubdreckel“ Ah! Ein Genussmensch! Er weiß, was gut ist. Er liebt den vollen Geschmack, das cremige Mundgefühl, die Süße, das typische Aroma. Vollmilchtrinker sind für mich der Gipfel der Normalheit. Lebensfähig, bodenständig, glücklich. Sein Milchschaum wird bestimmt schön fest und steht lange. Als ich das denke, werde ich ein bisschen rot. Alles in allem ein wirklicher Traummann – also unerreichbar.

Vollmilchtrinker sind für mich der Gipfel der Normalheit. Lebensfähig, bodenständig, glücklich.

Meine Bedürfnisse sind banal und durchschaubar, der Bioladen weiß es längst

Um mich abzulenken, mache ich einen Schwenk in die Kosmetikabteilung und remple dabei mit dem Kuschelkörbchen leider ein bisschen das Gewürzregal an, sodass ein paar Packungen "Kreuzkümmel (gemahlen)", "Majoran (gerebelt)“ und "Paprika (edelsüß)“ herausfallen. Ich entschuldige mich beim Regal, Verzeihung, es tut mir Leid. Edelsüß, denke ich noch, das wäre ich auch gern, das klingt nach weißen Zähnen und Konto im Plus. Dann drehe ich mich zum Regal mit dem Duschgel, hier wollte ich eigentlich hin, bevor mich der Anblick des Vollmilchmannes gebannt hat. Die "Aromadusche 'Geborgenheit'“ erweckt mein Interesse, natürlich. Meine Bedürfnisse sind banal und durchschaubar, wem mache ich hier etwas vor. Der Bioladen weiß es ohnehin längst. Ich öffne den Deckel und drücke leicht federnd auf die Tube, sodass nur Duft, kein Duschgel an meine Nase kommt. Es riecht warm und blumig, nach Rosen im Spätsommer und Sonne auf frisch geschlagenem Holz. Ich schließe für einen Moment die Augen und atme den Geruch tief und geräuschvoll ein, tief durch die Nase in die Lungen in den Bauch in den Kopf und wieder raus und wieder ein und wieder aus.

Edelsüß, das wäre ich auch gern, das klingt nach weißen Zähnen und Konto im Plus.

Schon lange nicht mehr war ich so ruhig und im Einklang mit mir selbst wie in diesem Moment. Die Welt im Bioladen ist richtig, warm, hell und gut: ein Paradies mit Schiebetüren. Wer hier eintritt, wird ein bisschen gereinigt, man kauft sich frei vom letzten Billigfleisch und tritt zurück hinaus ins falsche Leben mit einer Weste, die vielleicht nicht lupen-, aber lupinenrein ist. Als mich eine Mitarbeiterin leicht am Arm berührt und mich bittet, den Laden zu verlassen, ist mir leicht schwindelig von der ganzen Geborgenheit aus der Duschgelflasche. Es war eine gute Sitzung heute.

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