Bin ich etwa jetzt schon zu alt für Berlin?

© Hella Wittenberg

In ihrer Kolumne "Fragen an das seltsame Leben" stellt Autorin Ilona Fragen zu den großen, aber vor allem zu den kleinen, unscheinbaren Rätseln des Alltags. In dieser Episode fragt sie sich, was eigentlich ein gutes Alter ist, um in Berlin zu leben – zugegebenermaßen mit der Vermutung, genau das nicht (mehr) zu haben.

Warschauer Brücke. Junge Menschen mit lautem Lachen und Vollmondpupillen strömen vorbei. Zwei Gestalten unterhalten sich etwas abseits des Getümmels. Unterdrücktes Gähnen ist zu hören.

“Und was machen wir jetzt?”
”Ich weiß nicht. Vielleicht geh ich einfach ins Bett.”
”Auch gut. Ich mach mir auf jeden Fall noch ein Kräuterkissen warm.”
“Früher war das unser Codewort für Kiffen.”
“Ha, früher. Damals, als wir noch jung waren.”
”Letztes Jahr, zum Beispiel.”

78 ist ein wunderbares Alter. Das Problem ist nur, dass ich eigentlich dreimal jünger bin

Es ist Samstagabend in Berlin. Wir waren zum Essen verabredet und haben bei Dinette ein exquisites Drei-Gänge-Menü serviert bekommen, außerdem wurde beständig Cremant nachgeschenkt, sodass meine Freundin und ich jetzt ein wenig wankend in der milden Abendluft stehen und überlegen, wie die Nacht weitergehen soll. Oder besser: wie wir sie jetzt beenden, schließlich ist es schon nach 22 Uhr. Unsere Rollatoren haben wir gemeinsam an einem Zaun angeschlossen und ich merke, wie sich mein Gebiss ein wenig löst – das Mandelkrokant vom Dessert war sehr knackig gewesen. “Naja, dann mal gute Nacht!”, nuschle ich, ziehe die Stützstrümpfe zurecht und rattere langsam in leichten Schlangenlinien zum Taxi, wo mir der freundliche Fahrer beim Einsteigen hilft und mir ein wenig die Rückenlehne verstellt, damit ich es bequemer habe.

Ja, 78 Jahre ist ein wunderbares Alter, finde ich. Das Problem ist nur, dass ich eigentlich dreimal jünger bin, zumindest laut meiner Geburtsurkunde. Nur in meinem Inneren bin ich eine alte Dame, anders kann ich mir mein Verhalten nicht erklären. Es ist die meiste Zeit ziemlich großartig, aber ich frage ich regelmäßig, ob ich nicht bereits ein wenig zu alt, vernünftig und träge geworden bin für Berlin. Und ob es nicht einen besseren, früheren Zeitpunkt gegeben hätte, um in diese schnelle, laute, verheißungsvolle Großstadt zu ziehen.

Ich gehe ins Restaurant und danach einfach wieder nach Hause, ganz ohne Gruppenzwang und gesellschaftlich erwarteten Berliner Hedonismus.

Das Schöne am Alter ist ja, dass einem so viele Dinge ganz wunderbar egal werden. Man interessiert sich nicht mehr für so viel, sondern kennt seine Vorlieben, man hat schon genug dumme Geschichten erlebt, um jetzt einfach nur noch den unaufregenden Spaß und Komfort der Dinge zu genießen, die man wirklich mag. Ohne die Angst, währenddessen etwas zu verpassen oder als langweilig zu gelten – denn natürlich verpasst man etwas und natürlich ist man dabei so spannend wie ein Stück Toastbrot ohne Rinde, aber, und das ist der Unterschied: Es ist vollkommen egal. Geht ihr mal feiern bis in den nächsten Vormittag, steht ihr mal zwei Stunden für den Club oder die Ausstellung an, wartet ihr mal eine halbe Stunde auf einen freien Tisch beim angesagten Vietnamesen. Ich gehe ins Restaurant und danach einfach wieder nach Hause, ganz ohne Gruppenzwang und gesellschaftlich erwarteten Berliner Hedonismus. Mein Leben als Film wäre so spannend wie die Zeitlupenaufnahme eines Ladebalkens.

Mein Leben als Film wäre so spannend wie die Zeitlupenaufnahme eines Ladebalkens.

Hab ich was verpasst?

Und doch frage ich mich: Bin ich vielleicht zu spät nach Berlin gezogen? Habe ich das Beste oder vielleicht sogar einfach alles verpasst, weil ich nun schon zu erwachsen bin, um Lust auf regelmäßige Exzesse inklusive Katersonntage zu haben und zu tief im Arbeitsleben stecke, um noch Zeit dafür zu haben? Richtig bewusst wurde mir das, als ich mich neulich absolut unironisch mit den Worten "Ich muss morgen früh zum Brunch fit sein" gegen halb eins von einer gerade so richtig in Fahrt kommenden Party verabschiedete. Ich fühlte mich steinalt, aber nicht wegen meiner verschobenen Prioritäten, sondern weil ich tatsächlich eine der ältesten im Raum war. Das ist neu und gar nicht mal so angenehm.

Wäre nicht vor 5 Jahren der beste Moment gewesen, um mich jung und unverbraucht in die Arme Berlins zu werfen und mich mitreißen zu lassen von allem, was Tag- und Nachtleben mir bieten? Einerseits beneide ich Menschen, die gerade im egal wievielten Semester irgendwas studieren, zwei Tage die Woche frei haben, scheinbar endlose Semesterferien genießen und zwischendrin genug Muse haben, um wahnsinnig lange, gut durchdachte und kluge Texte zu schreiben. Als verknöcherte Greisin bleibt mir so nichts weiter übrig, als zynische Witze darüber im Internet zu machen.

Berlin verlangt eine gewisse Reife

Auf der anderen Seite bin ich ziemlich sicher, dass ich als die 20-Jährige, die ich war, in Berlin mehr als verloren gewesen wäre. Möglicherweise wäre ich nach drei Wochen von der Großstadt so überfordert gewesen, dass ich meine Sachen gepackt und eine einsame Waldhütte bezogen hätte. Vielleicht wäre ich mit einer feurigen Nachtbekanntschaft durchgebrannt oder hätte es zumindest versucht, die Übung dann aber doch aus Vernunft abgebrochen. Vermutlich hätte ich damals wie heute alles Mögliche verpasst, aber anders als jetzt hätte mich die sogenannte Fomo, also Fear of Missing Out, innerlich aufgefressen. Realistischerweise kann ich mir also nachträglich gratulieren, mit meinem Umzug nach Berlin so lange gewartet zu haben, bis ich keinen hysterischen Zusammenbruch mehr bekomme, wenn zwei (!) Events zur gleichen (!!) Zeit stattfinden. Und ich gestehe es mir ungern ein, aber vermutlich war ich sogar schon mit 16 genauso vernünftig und exzessunwillig, dass es an dieser Stelle wirklich keinen großen Unterschied zu heute gegeben hätte.

Ich fühle mich auch noch viel zu jung, um jetzt sesshaft zu werden und im Prenzlauer Berg Naturwein und Bio-Käse zu verkosten.

Trotzdem fühle ich mich noch viel zu jung, um jetzt sesshaft zu werden und im Prenzlauer Berg Naturwein und Bio-Käse zu verkosten. Mir graut vor langfristigen Investitionen jeder Art, ich trinke mein Konto immer noch regelmäßig vor Monatsende leer und wenn der DJ meinen Song spielt, performe ich mit der Ausdauer und Wendigkeit einer ganzen F-Jugend-Fußballmannschaft und manchmal stehe ich dafür sogar auf. Würde man mir eine Eigentumswohnung am Stadtrand anbieten, ich würde sie ausschlagen.

Und hätte ich die Wahl zwischen Spa-Wochenende mit Kräutersauna im Vabali und 4-Mann-Zelt auf einem Hip-Hop-Festival in Brandenburg (also auch irgendwie Kräutersauna), würde ich beides höflich ablehnen. Ich habe hier durchaus eine Lebenswelt gefunden oder geschaffen, die mich so alt oder jung sein lässt, wie ich sein möchte. In diesem Fall eben eine jung gebliebene Nörgelrentnerin mit Rennrad statt Rollator. Wenn mein Gehirn beim Einschlafen irgendwann den Windows ‘98-Herunterfahrsound von sich gibt, kann ich immer noch an den Stadtrand ziehen und Enten füttern.

Im Titelfoto trägt Ilona eine Hose von Weekday und ein Shirt von & other Stories.

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