Berlin von oben – Das Protokoll eines Höhenrauschs im Drehrestaurant "Sphere"

© Theo Rio

Ein starkes Verlangen nach einem Perspektivenwechsel überkommt mich zwar häufiger, aber großartigerweise fiel mir dieses Mal auch ein, wo ich denn genau so einen erfrischend anderen Blick finden würde: oben – ganz Oben!

Entzückt von meiner fantastischen Idee sprang ich direkt aus meinem Küchenfenster auf die Straße, knöpfte mir im Laufen die Hose zu und hüpfte in einem Satz in die U8. Am Alexanderplatz schaute nochmal von außen ehrfurchtsvoll auf den gigantischen Phallus des Ostens, Berlins Foto-Bomber Nummer 1 – den Fernsehturm.

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Für 24 Euro einmal ganz nach oben

Dann ging alles überraschend schnell. Am Eingang wurde ich nur kurz von einem gesichtstätowierten Rausschmeißer abgefühlt und in der "Lobby" zog ich, ohne mich anstellen zu müssen, am Automaten eine Art "Rundum Sorglos-Ticket" (24 Euro!) inklusive zweier Aufzugfahrten und einem reservierten Fensterplatz für das Gipfelrestaurant „Sphere“.

Ich war aufgeregt, wie ein viel zu groß geratender Dreijähriger, der gleich zum ersten Mal alleine Achterbahn mit Looping fährt. Vielleicht vergingen auch deshalb die Minuten beim zweiten, deutlich ausführlicheren Sicherheitscheck, wie im Fluge. Hinter einer Glastür wartete derweil schon ein lustig gekleideter Aufzugführer, der mich und die anderen „Hochfahrwilligen“ nach und nach mit abgeklärten Winkbewegungen in seinen kleinen dunklen Fahrstuhl lockte. Fasziniert mit welcher Konsequenz der alte Liftboy seinen Dienst verrichtete, bekam ich von den 207 Höhenmetern, die wir während der rund einminütigen Fahrt zurücklegten, kaum etwas mit. Der Aufzug stoppte abrupt auf der ziemlich überfüllten Aussichtsplattform und deshalb ging ich ohne Umwege die kleine Treppe hoch zum „Drehrestaurant Sphere“, wo man mir freundlich aber bestimmt Fensterplatz 22 zuwies.

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Unkontrollierte Berlin-Ekstase an Fensterplatz Nr. 22

Hemmungslos ließ ich mich fallen in den wunderbar gepolsterten Stuhl und staunte erstmal eine Weile mit extrem weit geöffnetem Mund über die Stadt hinweg. Ich war definitiv im Himmel und malte mir sofort detailliert aus, wie es wohl wäre, hier oben zu wohnen, Liebe zu machen oder zu sterben. Zur Freude aller Anwesenden brach dann auch noch die Sonne durch die grauen Wolken und es wurde richtiggehend magisch. Alles schien von oben gesehen so extrem perfekt, so genial und die öffentlichen Verkehrsmittel schlängelten sich zumindest in meinen Augen wie virtuose Meister durch das kontrollierte Chaos.

Wie der inoffizielle Titel „Drehrestaurant“ schon verrät, dreht sich das „Sphere“ innerhalb der Öffnungszeiten (9.00 bis 0.00 Uhr) nonstop um die eigene Achse, das heißt, man kann in exakt einer Stunde wirklich das komplette Berlin-Panorama studieren. Da ich mindestens eine Runde bleiben wollte, bestellte ich mir beim aufmerksamen, aber unaufdringlichen Service flink per Zeichensprache eine große Kanne Kaffee (ja, hier gibt es noch Kännchen) und trotz der vielen Wolken genoß ich den ersten Minuten einen relativ klaren Blick in Richtung Nord-Osten.

 

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Mir wurde richtig heiß ums Herz und ich fing an, selbst am Rad zu drehen.

Ich erspähte Kirchtürme, die ich vorher noch nie wahrgenommen hatte und verfolgte einige Straßen bis an das Ende der Stadt. Ich hätte wahrlich nicht gedacht, dass es hier oben so geil ist. Während mir eine riesige, silberne Kaffeekanne serviert wurde, rotierte auch langsam die Spree in mein Blickfeld, die im Licht der Sonne nun mit der Kanne um die Wette funkelte. Mir wurde heiß ums Herz und ich fing an, selbst am Rad zu drehen. Ich murmelte etwas wie: "Ich liebe dich, du holder Fluß! Ich liebe jeden Tropfen und jede verrostete Fahrradspeiche in dir!"

Leicht verwirrt und errötet nahm ich einen großen Schluck Kaffee im Bill Murray-Style direkt aus der duftenden Kanne und hörte dabei, wie ein Opi zu seinen Enkeln sprach: "Guckt mal Kinder, da ist das Berliner Tor." Vielleicht hätte ich 207 Meter weiter unten die Augen verdreht, aber direkt unter den Wolken sollte wirklich für alle auch die Toleranz grenzenlos sein. Ich belohnte meinen Sanftmut mit dem nächsten großen Schluck und kurz darauf zeigte sich auch das Tempelhofer Feld in seiner ganzen Pracht und ich geriet erneut ganz schlimm ins Schwärmen und säuselte: "Du perfekt ausgeleuchtete Freifläche der Superlative, ich würde gerne alle freundlichen Drachen der Welt gleichzeitig auf dir steigen lassen. Ich liebe dich!"

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Das idyllische Berlin-Panorama hat einen gewaltigen Haken

Ich verlor komplett die Kontrolle im Höhen, Dreh - und Kaffeerausch und um nicht in einer Zwangsjacke wieder nach unten chauffiert zu werden, kam ich zu dem Entschluss, dass ich mich schleunigst auf die Suche nach einem Haar in der Suppe des "Sphere" machen sollte. Also musterte ich die Speisekarten, den Teppich, die Kuchenauslagen und versuchte überall um mich herum krampfhaft etwas Schlechtes zu entdecken. Als sich auf Anhieb nichts annähernd Furchtbares auftat, ging ich sogar auf die Toiletten und streifte mit meinen weißen Seidenhandschuhen über die üblichen Staubfänger und checkte mit meinem Schlüsselbund-Schwarzlicht die glänzenden Klobrillenränder. Doch auch dort gab es wirklich nicht einen Partikel, der mich wieder runter holen konnte. Es war im "Sphere" leider einfach nur großartig. Die Panorama-Runde neigte sich dem Ende als mir endlich etwas auffiel, was mir dort fehlte und ohne das ich definitiv nicht leben kann: Den gewohnten Blick auf den Fernsehturm! Erleichtert über die Erkenntnis, dass es hier doch nicht alles perfekt ist, kippte ich mir den letzten Schluck Kaffee in den Hals und begab mich immer noch recht aufgewühlt zum Fahrstuhl.

Seit meinem Besuch "ganz oben" denke ich immer, wenn ich vom weitem den Fernsehturm sehe, etwas ähnliches, was Neil Armstrong wahrscheinlich immer gedacht hat, wenn er nach seinem "Moonwalk" von der Erde aus den Mond betrachtet hat.

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