Was uns das Leben so lehrt, ohne dass wir es mitbekommen

© Hannah Bahl

Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich meinen 27. Geburtstag zu dem Geburtstag erkoren habe, der alle anderen überschatten sollte und auch nicht warum, aber irgendwie wurde die 27 über die letzten Jahre immer wichtiger für mich und in meinem Kopf immer größer. „Mit 27 habe ich einen festen Job. Einen, der mir Spaß macht und mit dessen Lohn ich einmal im Jahr einen Kos-Urlaub in einem blau-weißen Bungalow machen kann“, dachte ich mit 21. „Mit 27 achte ich auf meinen Körper, verliere den überschüssigen Babyspeck am Bauch und esse ganz viel Chia-Pudding“, dachte ich mit 25. Sowieso, würde ich mit 27 wissen, wer ich bin und was das Leben ist und ich wäre schlauer und sportlicher und attraktiver.

27 wurde meine Zahl und der Geburtstag dazu wurde in meiner Vorstellung zu einem fulminanten Event. Einem mit Wartezeit am Einlass, Feuerwerk im Takt der Highhat und einem ausgeglichenen, ruhigen Gefühl der kompletten Glückseligkeit, das sich nach der letzten Zugabe einstellt. 27 wurde Erwachsenwerden mit einem sicheren „Pow!“. 27 wurde Beyoncé.

Irgendwie fühlte sich das Spektakel weniger nach Beyoncé und mehr nach Mario Barth an.

Heute liegt mein 27. Geburtstag ungefähr drei Monate zurück und ich bin mir nicht sicher, inwiefern meine Vorstellungen an das Event wirklich realistisch waren. Irgendwie fühlte sich das Spektakel weniger nach Beyoncé und mehr nach Mario Barth an. Weniger selbstbewusst, sondern eher daneben und so gar nicht erwachsen. Mit Witzen, die Überbleibsel aus der pubertierenden Pickelzeit sein könnten und einer guten Portion Unsicherheit, dass ich eben nicht dort angekommen bin, wo ich eigentlich sein wollte.

Da meine Unsicherheit zusätzlich zur Niederlage über die letzten Wochen noch größer wuchs und ich sie gar nicht mehr abstreifen konnte, habe ich vor ein paar Tagen das gemacht, was jede verkopfte und zu leichten Zwangsneurosen neigende Person machen würde und eine Liste geschrieben. Was als Liste begann, wurde zu einer Art Geständnis gegenüber mir selbst und der Welt, von der ich eigentlich, ehrlich gesagt, ein bisschen mehr Entgegenkommen erwartet hätte. Überschrift:

"Was ich gelernt habe und was nicht"

Ich habe gelernt, dass ich eine Steuererklärung abgeben muss und wie das gemacht wird. Was ich nicht weiß: Wie man einen Monat finanziert ohne ab dem 28ten beim Geld abheben gegen Himmel zu beten, um den Gott der EC-Automaten zu beschwichtigen, mir doch noch 50 Euro auszuwerfen. Trotzdem weigere ich mich jedes Mal aufs Neue im nächsten Monat besser zu wirtschaften.

Ich habe meine kindliche Träumerei aufgegeben, Star in einem Disneyfilm zu werden. Ich weiß heute, dass ich weder der nächste Zac Efron in „High School Musical“, noch der Nachfolger von Miley Cyrus in „Hannah Montana“ werde. Genauso wenig werde ich jemals so muskelbepackt sein, wie Zac Efron das mittlerweile ist und ich werde nicht so verrückt sein, wie Miley Cyrus heute in ihrer Snapchat-Geschichte aussieht.

Generell weiß ich jetzt, dass machen wichtiger ist als träumen. Das sagt zumindest mein Vorbild, Über-TV-Produzentin Shonda Rhimes, die amerikanische TV-Serien wie "Grey’s Anatomy" kreiert hat, in einer Rede an Absolventen ihres alten Colleges Dartmouth. Trotzdem weiß ich, dass Träume einfach bequemer sind als Taten. Dass es schwierig sein kann, Dinge richtig anzupacken und dabeizubleiben und sie bis in die letzte Instanz zu Ende zu denken. Das fällt mir am stärksten auf, wenn ich auf meinem Sofa liege und die Dartmouth Rede von Shonda Rhimes anschaue, obwohl ich meinen Lebenslauf für neue Bewerbungen überarbeiten sollte.

Ich habe gemerkt, dass Polizisten auch nur Menschen sind. Und Anwälte auch und der schlechtgelaunte Chef, wenn er fragt, wo denn der Mediaplan ist, den er genau jetzt auf seinem Schreibtisch sucht. Trotzdem habe ich noch Angst vor Anwälten und vor Polizisten und auch vor Ärzten. Generell vor Menschen mit Autorität und Menschen in Uniformen. Hippe Shop-Besitzer in Berlin Mitte, die mich so anschauen, als würde mein Puddingkörper nicht in ihre hellen Instagram-baren Läden gehören, fürchte ich sowieso.

Meinen Babyspeck habe ich übrigens immer noch, aber ich finde es mittlerweile nicht mehr ganz so schlimm, wenn Freunde meinen Bauch anfassen oder wenn mein Freund ein dickes, sprechendes Gesicht aus ihm und dem Bauchnabel knetet und den Bauchmenschen in tiefer Tonlage Witze erzählen lässt, die auf meine Kosten gehen.

Wenn es um Beziehungen geht, weiß ich heute, dass ich mein Gegenüber oft und gerne kritisiere und ihm damit das Gefühl gebe, alles falsch zu machen. Ich weiß aber nicht, wie ich meine Anmerkungen dauerhaft unterdrücken kann und ihm nicht jedes Mal aufs Neue zeige, wie man die Spülmaschine jetzt in der richtigen Ordnung einräumt. Gabel zu Gabel und Messer zu Messer. Ich weiß, dass ich mir selbst erlauben muss, glücklich zu sein und keine Nadel im Heuhaufen mehr suchen darf, auch wenn ich im Suchen danach einfach super bin. Es tut mir leid, dass ich das mit dir nicht geschafft habe.

Ich weiß, dass ich Ananas nicht vertrage und wirklich nicht mehr essen darf und dass ich Meeresfrüchte nicht ausprobieren muss, wenn mir alleine ihre glitschige Oberfläche schon Gänsehaut verpasst. Ich weiß, dass Drogen okay sind, bloß, dass mein Körper, der ein komisches „Alles steht Kopf“-Animationsfilm-artiges Eigenleben führt, sie nicht verträgt. Ich weiß, dass ich keine Person auf den ersten Blick bin und auf Menschen non-threatening wirke, wie man im Englischen sagen würde. Ich weiß, dass mir Familie wichtig ist, ich später Kinder adoptieren möchte und ich ein guter Vater werde. Ich weiß, dass ich nicht depressiv bin, sondern manchmal einfach faul. Dass ich nicht dumm bin, sondern teilweise einfach länger brauche. Dass ich sehr sensibel bin und unheimlich verletzlich und dass das meine Stärke ist. Ich weiß, dass ich kann, wenn ich will und dass ich gut bin.

Einatmen, ausatmen, ein, aus

„Einatmen, ausatmen, ein, aus“, gibt meine innere Stimme an Lunge, Bronchien und Herz weiter, während ich die Finger von der Tastatur nehme. Mein Kopf ist erst überfordert und dann überrascht – denn die Liste zeigt mir etwas, das ich in den letzten Monaten nicht gesehen oder besser gesagt übersehen habe: Vielleicht weiß ich doch ein bisschen, wie das Leben funktioniert. Und ziemlich sicher habe ich ein gutes Gespür dafür, wie ich funktioniere.

Meine 27 ist nicht Beyoncé und auch nicht Mario Barth. Ich bin heute zwar nicht schlauer, nicht sportlicher und nicht attraktiver, aber ich bin unfassbar begeisterungsfähig für die kleinen Dinge, für YouTube-Videos und Kastanien, aus denen man Tierfiguren basteln kann, ich bin empfänglich für die Probleme meiner Freunde, jemand, der sofort mit einer Packung Taschentüchern und Schnaps vor der Tür steht, wenn er gebraucht wird und gut darin, den Ton beim Singen länger zu halten als alle anderen. Ich bin unsicher, ich bin fehlbar und ich habe gelernt, mich selbst so zu nehmen und meine Schwächen anderen zu kommunizieren, so wie an einem Teich im Winter eben auch “Vorsicht glatt, betreten auf eigene Gefahr” steht.
Und jetzt gerade beschleicht mich das Gefühl, dass genau das vielleicht doch ganz erwachsen und diese 27 sogar besser ist als Chia-Pudding im blau-weißen Bungalow.

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