"Total angetrunken vom Leben" – Aus dem geheimen Tagebuch der Angelika Taschen

Angelika Taschen, Kunsthistorikerin und ehemalige Verlegerin beim Taschen-Verlag, machte erst vor Kurzem mit einem Interview in der WELT wieder auf sich aufmerksam, in dem sie von ihrem fulminanten Leben in Berlin berichtete. Sie hat uns damit einen kleinen Einblick in das Leben einer Berliner It-Power-Frau gegeben. Aber was geht wirklich in ihr vor? Uns hat sie vielleicht ihr Tagebuch geschickt. Hier ist ein Auszug.


Liebes Tagebuch,

es ist Sonntagabend, kurz vor halb elf. Ein wahnsinnig intenses Wochenende liegt wieder hinter mir. Spontanbesuch aus L.A. war da, alte Kunstfreunde und ehemalige Nachbarn, Soraya und Jean, unglaublich inspirierendes Power-Couple. Während sie inspirierten, musste ich improvisieren, Kontakte für kurzfristige Tischreservierungen spielen lassen. Aber, sagte ich mir, du schaffst das, Angelika. It’s all a matter of attitude. Zumal, wer kennt Berlin schon besser als ich?

Meine Beine sind müde vom Schreiten. Alte Nationalgalerie, Bode-Museum, die Stufen vom Nola’s am Weinberg – wer Treppen schreitet, nicht läuft, der spürt die Stadt ganz anders. Training in den Alltag integrieren, das muss man machen, als Powerfrau. Time-Management, auf Pumps die kulturellen Hotspots der Stadt mitnehmen. Das sind am Ende alles Pluspunkte auf unserer To-Do-List. Zudem weiß am Ende niemand, ob dein Arsch 35 oder 35 Plus ist.

Der Anblick in die radikale Leere gibt mir Kraft.

Würde mich gerne auf ein Sofa kuscheln, Chips und Popcorn aus einer Plastikschüssel knabbern und, eingehüllt in eine Decke, die Wiederholung vom Schwiegertochter gesucht schauen. Doch David sagte, David Adjaye, dass Wände sehen können. Ich glaube ihm, denn auch Wände haben eine Seele. Mich gänzlich vor ihnen gehen zu lassen? Das ist schier unmöglich. Daher habe ich weder ein Plüschsofa, noch einen Fernseher. Chips sowieso nicht. Das Schreiben auf meiner lederbezogenen Ottomane fällt schwer, rutsche ich doch unaufhörlich vom kalten Leder auf den glänzenden Holzboden. Der Anblick in die radikale Leere gibt mir Kraft. Heinrich v. Kleist wusste schon, was er sagte, als er von "weggeschnittenen Augenliedern" sprach. Die Metaebene des Eye-Liftings.

Aber, liebes Tagebuch, ich schweife ab. Freitagabend: Habe Soraya und Jean ins Hotel gebracht, vorher quick Dinner im Nobelhart. Jean wollte Pfeffer zu den sortenreinen Kräuterseitlingen. Gab es nicht, er musste zum Nachbaritaliener und kam mit einer riesigen Pfeffermühle zurück. Beim Anblick dieses hölzernen Pfahls erinnerte mich an die alten Zeiten im 90, Sommer 2005. Ich und dieser Typ, Clubtoilette. Na ja, jedenfalls: Pfeffermühle.

Manchmal Angelika, manchmal wünschst du dir doch die alten Zeiten zurück, oder? Das frage ich mich in letzter Zeit öfters. Doch dann denke ich an Camus, den Existenzialisten und Moralisten, und sage mir: Angelika, das kannst du auch. Auch ich bin biologisch, vernünftig, gottähnlich. Die Welt an sich macht keinen Sinn, der Mensch muss ihn ihr erst geben. Kunst, Interior, Ästhetik. Wo, liebes Tagebuch, wo existiert denn mehr Sinn als im Wahren, Schönen und Guten? Was mich, von Platon, zu Plateau bringt.

Schlafen ist das neue Gold, Schwitzen Silber.

Samstag: Habe beim Yoga geschwitzt wie ein Schwein. Aber Angelika, sagte ich mir, schwitzen ist das neue Gold. Moment, nein, das war schlafen. Schlafen ist das neue Gold. Aber Schwitzen ist auf jeden Fall Silber. Dann schnellen Flat White im Bonanza, die besten Bohnen der Stadt. Von dort mit dem Auto zum Kollwitzmarkt, bevor der Tofu ausgemanufakturiert ist. Mit einem Stück Räuchertofu kurz in die Sonne gesetzt, Nihilismus ein-, Philanthropie ausgeatmet. Man will den Mitmenschen doch nur das Beste. Trotzdem: Die After-Baby-Bodys? Nur semioptimal. Da geht noch was, Mädels.

Hier, im Prenzlauer Berg, kann man wunderbar den Alltag detoxen, Mittelmaß entgiften. Max Mustermann ausschwitzen. Musste gestern oft an Homberg denken. Die Bäckerei am Marktplatz, an der Hand meiner Mutter. Wurde nostalgisch, das Vermissen beinahe unerträglich. Wie lange ist es her? 15 Jahre? 15 Jahre bestimmt, kann mich an den Geschmack eines Brötchens kaum erinnern. Als sich die drei Kannen grüner Tee bemerkbar machten, fuhr ich zum Pinkeln ins SoHo. Claudia am Waschbecken getroffen, sah auch schon mal besser aus. Empfahl ihr Ottolenghis Granatapfel-Smoothie. Irgendwann wird sie es mir danken.

Hier, im Prenzlauer Berg, kann man wunderbar den Alltag detoxen, Mittelmaß entgiften. Max Mustermann ausschwitzen.

War natürlich wieder viel zu spät dran, abends wollten wir auf ein Gallery-Opening. Ich also in der Rush Hour Richtung Schöneberg, Slow-Food-Brot auf dem Beifahrersitz. Natürlich angeschnallt, so ein Laib ist teurer als die Anschaffung eines Kleinkindes aus dem Kongo. Apropos Kongo, habe Kleidung ins Flüchtlingsheim gebracht. Der ganze Lala-Berlin-Kram. Geht einfach nicht mehr. Leoprints auf Kaschmir? Das einzige Leo in meiner Wohnung ist der Präfix meines Leogant-Wasserfilters. Ich also mit zwei Säcken Markenkleidung vor dem Heim. Abendfüllender Smalltalk über Kunst hier nicht möglich. Aber deren Lebenseinstellung, total beeindruckend.

Abends, Dinner im Borchardt. Riesenschnitzel, weggehauen. Kein Problem als Flexitarier. Wir, total angetrunken vom Leben, mit dem Taxi ins Dean. Jean hat mit einer goldenen Ananas rumgemacht. Solche Verrücktheiten machen nur spontane Menschen. Gegen drei bin ich nach Hause. Die Füße, vom Schreiten. Du weißt ja…

Heute, Sonntag: Irgendwie bin ich total gloomy. Meine Nachbarn wollen tatsächlich ihre Wohnung kaufen. Der Kinder wegen. Habe ihr, Annette, ehemals Emmendingen, empfohlen, sich von allem Substantiellen zu lösen. Dieser Ballast, Beton, der dich an Ort und Stelle hält, weg damit. Sie lebt jetzt bei ihrem neuen Freund Raoul auf Ibiza, tolles Loft, die Kinder beim Vater in Schöneberg. So ist jeder glücklich, oder?

Wenn man im Jahr 2016 lange genug so tut, als sei kein einziger Tag sei 2006 vergangen, dann funktioniert das auch mit dem It-Woman-Dasein.

Habe meinen alten Kalender aus 2006 gefunden. Überall Notizen, Post-its, königsblaue Montblanc-Tinte, verschmiert von all den Litern Champagner, die seitdem die Spree runterflossen. Versuche, mein mindset anzupassen: Wenn man im Jahr 2016 lange genug so tut, als sei kein einziger Tag sei 2006 vergangen, dann funktioniert das auch mit dem It-Woman-Dasein.

Gute Nacht liebes Tagebuch,
Deine Angelika


Titelfoto: © Angelika Taschen/Facebook

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