"My way or the highway" – Wie ich in Berlin lernte loszulassen

© Aidan Meyer | Unsplash

Wer mich fragt, was zwischen Januar 2010 und Juni 2011 in Kreuzberg, genauer gesagt SO36 passierte, dem kann ich keine Antwort geben. Nicht, weil ich ein Misanthrop bin, ich weiß es einfach nicht. Ich war nicht dort – obwohl ich zu diesem Zeitpunkt bereits über ein Jahr in Berlin lebte. Es war der Kiez meiner Beziehung, für die ich damals nach Berlin zog, und jener Ort, den ich nach unserer Trennung über ein Jahr meiden sollte. So heulte ich die Spree auf ihren Jahreshöchststand und empfand, dass Flucht die einzig mögliche und beste Art der Verteidigung vor der plötzlichen Nichtexistenz eines Menschen war.

Doch während mein Bezugs- und Beziehungsmensch schon nach relativ kurzer Zeit wieder im Schlund Kreuzbergs verschwand, blieb ich einfach in Berlin und erfuhr hier zum ersten Mal in meinem Leben, wie sich der nach Tod riechende und Hass schmeckende Verlust eines noch existierenden Menschen anfühlte. Ich lernte auf die harte Tour, was loslassen müssen mit meinem Körper, meinem Verhalten und meinem Reifeprozess macht und befand mich dafür in der besten Schule, die dieses Land zu bieten hat. Berlin ist ein Pendant zur Fernuniversität Hagen: Man bildet sich im Loslassen, während nebenbei weiterhin gelebt, geliebt, gearbeitet und, nicht zu selten, gelitten wird.

Berlin ist ein Pendant zur Fernuniversität Hagen: Man bildet sich im Loslassen, während nebenbei weiterhin gelebt, geliebt, gearbeitet und, nicht zu selten, gelitten wird.

An der Tatsache, dass ich freiwillig über ein Jahr auf dieses Erdbeer-Bisquit-Quark-Dings von „Milch & Zucker“ auf der Oranienstraße, auf Adana Kebab in der Adalbertstraße und Kaffeetrinken am Engelsbecken verzichtete, erkenne ich heute, dass ich schlichtweg Abschiedsanfänger war. Und Anfänger machen Fehler. Berlin steht natürlich in diesem Fall für einen Zeitgeist, der Kommen und Gehen nicht nur toleriert, sondern fördert. Wir sind unabhängig, lassen uns auf Beziehungen, partnerschaftlich und freundschaftlich, nur noch ein, wenn sie uns in unserem unbedingten Hang zur Selbstverwirklichung nicht hindern.

Vom Freund zum Fremden. Vom Vertrauten zum Verachteten.

Wir ziehen nicht wie Mary Poppins dem Ostwind hinterher, gerne aber einer offenen Position in irgendeinem Startup in irgendeiner anderen Metropole in der irgendein anderer Mensch wohnt, den wir an uns heranlassen und abstoßen – oder eben von ihm abgestoßen werden. Wahrscheinlich impliziert jener Zeitgeist eben auch, dass der Habitus befristeter Jobs die Akzeptanz oder gar das Suchen nach befristeter Zwischenmenschlichkeit kultiviert. Heute, in meinem verflixten siebten Berliner Jahr, kann ich die Namen jener Menschen nicht mehr an zwei Händen abzählen, die wie ein Sturm in mein Leben traten, Fuß- und Lippenabdrücke auf meiner Seele hinterließen und wieder verschwanden.

Ich lernte in den vergangenen Jahren viele Menschen kennen, die meine Freunde wurden und blieben. Ich lernte jedoch auch viele Freunde kennen, die irgendwann wieder zu einem der knapp vier Millionen Menschen wurden, die hier leben. Vom Freund zum Fremden. Vom Vertrauten zum Verachteten, von Erfahrung zur Enttäuschung, vom Verliebtsein zur Verletzung.

In einer Stadt, die für jeden einen Weg hat, kann man sich sehr leicht verirren und einander nicht mehr wiederfinden.

Die Gründe des Loslassens sind so mannigfaltig, dabei gleichzeitig so berechenbar wie die Auswahl an Glasnudelsalat auf der Kantstraße und lassen sich in einer Metapher zusammenfassen: My way or the highway. Und in einer Stadt, die für jeden einen Weg hat, kann man sich sehr leicht verirren und einander nicht mehr wiederfinden.

So begegne ich heute noch ehemaligen Freundinnen, die, ohne mit der Wimper zu zucken, ein Enthüllungsbuch über all das schreiben könnten, was ich ihnen während unseres kurzen, aber sehr vertrauten Intermezzos anvertraute. Und vice versa. Eine Stadt voller Individuen, die alles voneinander wussten und so tun müssen, als hätten sie es nie gehört. Doch heute gehe ich anders mit Abschied um. Die Fragen werden weniger, die Akzeptanz, dass es Menschen für gewisse Phasen im Leben gibt, wird größer. Vor allem aber die Akzeptanz dafür, dass in gewissen Städten die Phasen kürzer sind. Manchmal auch nur einen Sommer.

Eine Stadt voller Individuen, die alles voneinander wussten und so tun müssen, als hätten sie es nie gehört.

Ich gehe erwachsener mit dem Loslassen um, finde Frieden in der Kürze und schätze die Länge anderer Freundschaften umso mehr. Ich freue mich über Verrückte, Chaoten und Nomaden, die mich auf meiner Reise begleiten und lasse sie mit dem Strom der Spree ziehen, wenn unsere Zeit gekommen ist. Ich brauchte Zeit, um verstehen zu können, dass es zum Berliner Lauf der Dinge gehört, sich selber und auch Freunde dem Sog der Großstadt überlassen, in der man so wunderbar anonym im Kollektiv sein kann. Dass Nähe und Distanz nicht im Gegensatz zueinander stehen, sondern ein wohl temperiertes Wechselbad der Gefühle bilden.

Natürlich, ich werde älter und damit auch selektiver, jedoch verbringe und verbrachte ich diese für den Reifeprozess so essentiellen Jahre – 25 bis 30 – in Berlin und bin überzeugt davon, dass es von Vorteil ist, in dieser Stadt das Loslassen lieben zu lernen, bevor es dich das Hassen lehrt.

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