Manchmal wissen wir gar nicht mehr, wie gut wir es in Berlin haben
Jeder kennt diesen Moment. Wir machen dasselbe wie immer, aber es fühlt sich anders an. Irgendetwas stimmt nicht, wir wissen aber nicht was. Plötzlich sind wir wachsamer, schauen anders auf unsere Umgebung. So ging es mir gestern Abend, als ich mein Fahrrad vor dem Kaufhaus am Alexanderplatz anschloss, um in die S-Bahn zu steigen. Ich würde das Baby ein paar Stunden allein lassen, klar, aber das kommt ja öfter vor. Weshalb also das komische Gefühl? Weil es der Alexanderplatz war, diese verlotterte No-go-Area? Der gefährlichste Platz Berlins, vielleicht sogar Deutschlands?
Das Gefühl, so absurd es mir vorkam, setzte sich fest und wich mir nicht mehr von der Seite. Heute würde etwas passieren! In der Bahn hielt ich mein Telefon fester in der Hand und in der Kleinen Wirtin am Savignyplatz nahm ich mein Portemonnaie aus der Jacke und steckte es mir in die Hosentasche. Wer weiß, welche Banden hier herumstromerten. Kaum ist man je so abgelenkt wie während eines spannenden und heiß ersehnten Fußballspiels. Ich zumindest.
Das Gefühl vom Alexanderplatz blieb immer noch bei mir, selbst als Marco Reus dieses unglaublich schön herausgespielte Tor erzielte und Liverpool endgültig geschlagen schien. Doch die Sterne standen heute eben anders als sonst. Das wußte ich ja schon. So endete alles in einem epischen Comeback, währenddessen ich überhaupt nichts bemerkt hätte. Ganz sicher nicht.
Ein Schlüssel ist nämlich nie weg. Er versteckt sich am Ende doch in irgendeinem Winkel der Jacke.
Nachdem wir den Abend bei ein paar Gläsern Wein hatten ausklingen lassen, stand ich auf der Grolmannstraße und suchte mein Schlüsselbund. Der Klassiker. Ein Schlüssel ist nämlich nie weg. Er versteckt sich am Ende doch in irgendeinem Winkel der Jacke oder, bei Damen, ganz tief in der Handtasche (aber das ist nochmal ein ganz anderes Mysterium). Ich ging zurück in alle Läden, aber er war wirklich weg. Ich schüttelte die Jacke aus, stülpte alle Hosentaschen um, schaute sogar in der Kapuze nach und klopfte andere Leute ab. Warum auch immer. Ich fand nichts. Ich verabschiedete meinen Freund und ging zur S-Bahn. Betriebsschluss. Und jetzt erst wurde mir bewusst, dass der Verlust des Schlüsselbundes zur Dramaturgie des Abends gehörte. Es war Vorsehung. Einfach nur ein wahnsinniges Fußballspiel - das war eindeutig zu wenig.
Auf der Kantstraße stoppte ich ein Taxi und bat den Fahrer, mich zum Alex zu fahren. Ich erzählte ihm nichts von meinem Problem. Nicht nur, weil die Zunge bereits schwer war. Auch weil ich dachte, dass er das wahrscheinlich ständig erlebt und es Interessanteres gäbe. Wir hielten vor dem Kaufhaus. Mein Rad stand noch da, eng umschlungen mit einem anderen. Es sah aus, als kuschelten sie oder hielten sich aneinander fest. Mitten in der No-go-Area, mitten in der Nacht. Mit bedeutungsschweren Schritten, aber auch mit einem Klos im Hals, lief ich auf die Räder zu, beugte mich hinunter zum Schloss und sah ihn, meinen Schlüssel. Es war 1:44 Uhr, mitten in Berlin. Ich hatte das Schloss, anders als sonst, ganz unten angeschlossen und, auch anders als sonst, das Hinterrad mit gesichert. Diese kleine Abweichung hatte die restliche Routine wohl ausgeschaltet. Und meinem Unterbewusstsein das komische Gefühl eingepflanzt.
Ein Glück kommt selten allein.
Eine Freundin aus Rio hat mir einmal ihre geradezu groteske Liebe zu Berlin erklärt. Es gäbe keine Stadt auf der Welt, wo man sich so jung und so sicher zugleich fühlen könne. Wo sie so wenig Angst um sich und ihre Sachen haben muss. Das allein, und natürlich noch das Berghain und ein paar andere Dinge, würde sie woanders nie finden. Rio habe zwar die Copacabana und den Carnival, biete aber eben auch die ständige Möglichkeit, dass drei Typen mit Kalaschnikoffs ins Restaurant stürmen und allen ihre Wertsachen abnehmen. Ich versuchte, sie zu verstehen.
Manchmal wissen wir gar nicht mehr, wie gut wir es hier haben. Als ich zurück zum Taxi lief, die Arme nach oben und einen Freudenschrei auf den Lippen, sagte der Fahrer: Alter, spiel mal Lotto heute! Ein Glück kommt selten allein.
Der Text kommt von Robert Gold. Sein Roman "Flieg ich durch die Welt" ist gerade erschienen.
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Titelfoto: © Matze Hielscher