In der Liebe sind drei immer einer zu viel

U1, Mittwochmorgen. Er sitzt auf der mir gegenüberliegenden Bank und liest seit ungefähr zwei Minuten immer wieder die gleiche Seite seines Buches. Keines Blickes würdigt er mich, während ich ihn mit meinen müden Augen fixiere, und jede seiner Bewegungen so intensiv studiere, als müsse ich sie mir für immer einprägen. Woran er wohl denkt? Muss er auch daran denken, dass wir es gestern Nacht dreimal taten? Fällt ihm auch auf, dass ich mir immer zweimal die Hände wasche, wenn wir morgens gemeinsam in meinem Badezimmer stehen. Dass ich immer viermal in regelmäßigen Abständen niesen muss, wenn die Sonne morgens in mein Schlafzimmer scheint? Während diese Fragen meine Gedanken durchziehen, atme ich zweiunddreißig Mal ein und aus. Die Türen der U-Bahn schließen sich dreimal mit lautem Zischen, es vergehen vielleicht zwei Minuten.

Thomas und ich lernten uns vor einigen Monaten vor der Technischen Universität kennen, die ich nur aufsuchte, um auf die Toilette zu gehen. Ich war auf dem Weg nach Mitte und musste auf Höhe des Ernst-Reuter-Platzes so dringend, dass mir nichts anderes übrig blieb, als zur pinkelnden Kurzzeitstudentin zu werden. Ich wünschte mir, es wäre romantischer gewesen. Weniger menschlich, mehr übernatürlich. Doch das, was in den letzten Monaten folgte, war ohne Zweifel von einem anderen Stern. Seine Fingernägel sind so wahnsinnig perfekt, so akkurat. Sie gehören zu einer Hand mit fünf Fingern, die sich, mal zärtlich, mal fordernd, gerne wie eine Schlinge um meinen Hals legen.

Das Surren der Fahrt hat eine einschläfernde Wirkung auf mich. Im Abstand von sieben Sekunden knallt es besonders laut, die Schienen scheinen uneben zu sein. An schlafen ist gerade nicht zu denken, ich darf ihn nicht aus den Augen lassen. Ihn, meinen ganz persönlichen Mathematikprofessor, der mich mit seinem nüchternen Verstanden um den Verstand bringt. In seiner Gegenwart fühle ich mich wie ein kleines Mädchen, das fragend zu ihrem Lehrer aufschaut, um sich von ihm die Welt erklären zu lassen.

Seine Welt sind die Zahlen, in der es eigentlich keinen Raum für Romantik und Zufälle gibt – und doch war unsere Begegnung in meinen Augen ein romantischer Zufall. Er lässt sich von mir morgens immer eine Tasse Kaffee machen, in die ich genau anderthalb gehäufte Teelöffel Zucker zu streuen habe. Dazu hat er gerne Obstsalat aus einem Apfel, zwei Orangen und einer halben Banane, Zimmertemperatur, da ihn sonst, wie er so schön sagt, „der Blitz trifft“.

Seine Welt sind die Zahlen, in der es eigentlich keinen Raum für Romantik und Zufälle gibt.

Dieser Mann, 15 Jahre älter als ich, ist so ekelhaft berechenbar und doch so einschüchternd überraschend. Er ist Mathematiker am Tag und Geschichtenerzähler bei Nacht, "a beautiful mind" bei Tageslicht und ein ausgezeichneter Liebhaber im Mondschein. Während er dem Blitz mittels Zimmertemperatur aus dem Weg geht, schmeiße ich mich voll rein.

In einem Berliner U-Bahn-Waggon gibt es vier lange Fenster auf jeder Seite, 58 Sitzplätze und 23 Haltegurte an den oberen Stangen. Je länger wir zusammen sind, desto mehr verliere ich mich in seinen Zahlen. Denn während ich ihn kaum halten, fassen und greifen, begreifen kann, verliebe ich mich nicht nur in ihn, sondern auch in die Beständigkeit der Nummern. Er scheint mich nicht einmal mehr wahrzunehmen, scheint den Geruch meiner Haare nach dem Duschen, den er so liebt, nicht mehr zu riechen. Er ist, so wie er da sitzt, nicht mehr mein Professor, sondern Pendler wie wir alle hier. Durch halb Berlin und einmal quer über meine Seele.

Nach vier Monaten, 21 Tagen, zwei Stunden und ... 15 Minuten ist unsere gemeinsame Reise, ironischerweise in diesem Wagon, zu Ende. Zwei Stationen nachdem wir gemeinsam einstiegen, gesellte sich eine Frau hinzu, die seine Frau zu sein scheint. Da meine Stimme und meine Muskeln versagen, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich wortlos aus der – im wahrsten Sinne des Wortes – Affäre zu ziehen. Schweigend begeb ich mich auf die andere Seite des Wagons, ohne ihn aus den Augen zu lassen und lass das Schauspiel geschehen.

In einem Mikrokosmos der Unverbindlichkeit offenbarte er mir seine Welt der verlässlichen Zahlen, die mir immer ein Rätsel bleiben wird. Was ich jedoch weiß, ist die Tatsache, dass in der Liebe drei Menschen immer einer zu viel ist.


Foto: © Unsplash

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