"Ich fahre, also brüll' ich" – Warum macht Straßenverkehr so aggressiv?

Wenn es eine Sache gibt, die ich in dem nun gut einem Jahr in Berlin gelernt habe, dann diese: Im Krieg und im Straßenverkehr ist alles erlaubt. Wo ausländischen Touristen der Alltag auf den Straßen der Hauptstadt als bewundernswert gesittet und gut organisiert vorkommt, empfinde ich oft als Teilnehmerin noch eine ganze Reihe anderer, wesentlich unangenehmere Gefühle. Klassischerweise natürlich Todesangst, Vorfahrtsgrößenwahn und nun ja, Hass. Diese ganz bestimmte Art von rasendem Sekundenhass, der zwar genauso schnell verfliegt, wie er kam, aber in der Zeit, in der er verweilt, jede Vernunft, jede Sanftmut und Toleranz auslöscht.

Dieses Phänomen beobachte ich nicht nur an mir, sondern an ungefähr 90% aller Menschen in meinem Umfeld: Sobald sie aktiv am Straßenverkehr teilnehmen, werden sie von Dr. Jekyll zu Mr. Hyde. Sozialpädagogen fluchen plötzlich politisch inkorrekt. Der friedfertigste Mensch der Welt drischt jäh und anhaltend auf die Hupe ein. Egal wie entspannt, besonnen und vernünftig man auch sein mag, Räder unter’m Hintern, ganz gleich, ob zwei oder vier, machen scheinbar aggressiv. Ganz so, als wäre das Fahrrad oder Auto der ideale Ort, um den im Alltag angestauten Frust in die Welt hinauszuschimpfen, -hupen, oder fluchen. Das Motto: Ich fahre, also brüll’ ich. Unser tägliches Fast and Furious gib uns heute, Mittelfinger hoch.

Wer sich im Berliner Straßenverkehr zu zaghaft verhält, verliert und provoziert gleichermaßen. Wer sich überschätzt, genauso.

Neulich stand ich zum Beispiel an einer Kreuzung am Alex. Irgendwer hatte sich beim Linksabbiegen falsch eingefädelt, stand nun seltsam quer mitten auf der Straße und um den unglückseligen Wagen herum stauten sich nun aus allen Richtungen die Autos. Die Folge: Lautes Hupen. Ein ohrenbetäubendes, vielstimmiges Konzert, gedämpftes Gebrüll aus den Wageninneren, erzürnte Gesichter und bei mir nur zwei Fragen: Warum hupen die, glauben die denn, es geht dadurch schneller weiter? Und: Wer legt eigentlich fest, welchen Ton eine Autohupe bekommt und warum klingt eine wie die andere völlig lächerlich?

Auf den Straßen Berlins, so viel ist klar, gelten eigene Gesetze. Wut und Aggression entladen sich, wann immer die Gelegenheit dafür günstig ist und über die Angemessenheit der Reaktion entscheidet jeder selbst. „Für das, was die Stadt an Verkehrsaufkommen aushalten muss, klappt das hier alles noch ziemlich gut“, erzählt mir der Taxifahrer, während er ein waghalsiges Überholmanöver startet und sich drängelnd wieder in die Spur einsortiert. Aha, denke ich schwitzend und streiche dabei innerlich „Auto“ von meiner Einkaufsliste. Wer sich im Berliner Straßenverkehr zu zaghaft verhält, verliert und provoziert gleichermaßen. Wer sich überschätzt, genauso.

Schieb doch gleich rückwärts, du Null!

Dabei kenne ich den Berliner Aggro-Modus nur zu gut von mir selbst. Im wahren Leben bin ich die Sanftmut auf Beinen – zumindest würde ich das ganz objektiv behaupten. Aber wenn ich auf dem Rad sitze, spielt eine andere Musik. Death Metal, ungefähr. Jeder andere Radfahrer wird potentiell zum Feind und der Grat von „Radfahrer gegen Autofahrer“ zu „Guter Radfahrer (ich) gegen schlechte Radfahrer (alle anderen)" ist schmal. Wer zu langsam fährt, den muss ich genervt überholen. Wie kann man so langsam fahren! Schieb doch gleich rückwärts, du Null!  Wer zu schnell fährt, ist ein verantwortungsloser Depp. Gib halt an mit deinem Fixie! Toll, jetzt stehst du vier Sekunden früher an der roten Ampel, Applaus! Dabei ist es relativ egal, ob ich vorschriftsmäßig im Recht bin oder selbst der Aggressor in einer Situation bin, Hauptsache, ich kann ein wenig die angestaute Wut ablassen. Aus dem Weg, niederes Volk!

Am schönsten ist es nämlich, wenn Fußgänger orientierungslos auf dem Radweg herumstehen. Dann schlägt meine Stunde, denn ich bin ganz und gar im Recht. Die stehen auf meinem Radweg! Endlich kann ich gerechtfertigt brüllen. Meistens tue ich das sogar auf Englisch, denn man weiß ja nie. Und außerdem klingt es natürlich wahnsinnig lässig. Fuck off! Get out of my way! Idiots! Douchebags! Wundervoll. Der Wind fährt mir durch’s Gesicht, ich fühle mich wild, gefährlich und extrem Berlin. Die Straße ist mein Revier. Wenige Augenblicke später werde ich an einer Ampel von einem zischenden Kurierfahrer überholt, der, als wir auf gleicher Höhe sind, laut hörbar stöhnt. Wie kann man nur so langsam fahren! Schieb doch gleich rückwärts, du Null!

Zurück zur Startseite