Heimat oder Übergangslösung: Ist Berlin eine Stadt zum Ankommen?
„Ach, ich kann mir durchaus vorstellen, in den nächsten Jahren wieder zurück nach Hause zu ziehen. Also, nicht ins Elternhaus natürlich, aber in die Gegend. Das stelle ich mir ganz schön vor.“ Ich schlucke und gieße Wein nach. Meine Schulfreundin erzählt weiter von ihrer Schwester, die bald Mutter wird und von ihrer Mutter, die bald 60 wird. Von Zeit, die gemeinsam mit der Familie verbracht doch wertvoller ist und von Erfahrungen, die irgendwann Mitteendezwanzig alle gemacht sind. Und eben von Heimat, von dem Gefühl des „Hier gehöre ich hin“. Ein inneres Einrasten in der Umgebung, so als wäre man wieder in seine vorgeformte Daseinsmulde hineingerutscht.
Dann denke ich daran, wie ich mit 19 mit wehenden Fahnen von zu Hause auszog und keine Sekunde lang das Zuhause vermisst habe, ja im Gegenteil, sogar froh war um jeden Kilometer, der mich davon trennte und stolz darüber, so unabhängig zu sein. Erst jetzt, ein paar Jahre später, bekomme ich im ICE Richtung Süden, immer kurz hinter Mannheim zusammen mit den ersten Streuobstwiesen und den sanften Hügeln in der Landschaft dieses wohlige Gefühl der Vertrautheit und empfinde es nicht als beklemmend, sondern beruhigend. Aber wie viele Zugezogene frage ich mit bei jedem Landeanflug auf Berlin: Bin ich hier jetzt eigentlich zu Hause? Gehöre ich schon dazu?
Wie viel Stabilität braucht das Heimatgefühl?
Für viele Menschen ist Berlin Wahlheimat und ich beginne, über das Wort nachzudenken. Heißt das, man kann sich seine Heimat bewusst auswählen? Und bedeutet es umgekehrt, dass es daneben noch eine Heimat gibt, die man sich nicht aussuchen kann, eine Heimat, die nicht Wahl sondern so etwas wie Schicksal ist? Ada Blitzkrieg hat mal über Berlin geschrieben, dass sie sich nicht in einer Stadt zu Hause fühlen kann, die für so viele nur Zwischenstation ist. Marlene Dietrich hatte noch einen Koffer in Berlin und Hildegard Knef Heimweh nach dem Kurfürstendamm. Kraftklub hingegen wollten erst nicht hin und sind jetzt doch ganz schön oft da. Ja, was denn nun? Ist Berlin eine Stadt zum Heimkommen? Und bedeutet die Entscheidung, sich in eine Stadt mit durchaus aberwitzigem Lebenstempo zu begeben, automatisch auch ein Haltloswerden?
Ist das hohe Lebenstempo in Berlin gleichzeitig auch der größte Makel?
Ich glaube: Nein. Denn wenngleich das Heimatgefühl einige lebensweltliche Sicherheitsnadeln braucht, um an einem Ort zu haften – ein fester Wohnsitz, regelmäßige Routen, Routinen und soziale Kontakte – stelle ich selbst immer öfter fest, dass Berlin gerade in seiner Stabilitätsverweigerung eine durchaus verlässliche Kontinuität ausstrahlt. Sicher ist, dass nichts sicher ist – ob der Job, die Wohnung, der Beziehungsstatus in einem Monat, einem Jahr noch derselbe ist, ist hier noch fraglicher als an vielen anderen Orten. Der Luxus, den die Freiheit der Möglichkeiten mit sich bringt, fordert auf der anderen Seite einen gewissen Verzicht aufs Handbremse ziehen.
Ist das was Schlechtes, der große Makel dieser Stadt? Nicht unbedingt. Denn wer sich freiwillig hineinbegibt und von Berlin als Lebensort gar nicht erwartet, hier mit gemütlicher Bräsigkeit aufgenommen zu werden, findet etwas genauso Wertvolles. Einen Ort, an dem jeder, der hier landen will, seinen Platz finden kann. Wo jede innere Veränderung auch im Außen ihren Ausdruck finden darf und wo der schnelle Wechsel von Ideen, Hypes, Trends und Meinungen doch auch immer dazu führt, dass man selbst ein neues Steinchen ins eigene Charaktermosaik einfügen kann. Oder eben all das getrost vorbeiziehen lassen und sein eigenes Süppchen kochen kann.
Wir haben keine Erwartungen aneinander, Berlin und ich.
Ob ich mich in Berlin denn schon zu Hause fühle, fragt nun meine Freundin. „Irgendwie ja“, sage ich, „vor allem deswegen, weil ich von Berlin nicht dieses eine tiefe Heimatgefühl erwarte, sondern die Stadt eher als eine Art Basislager sehe, von wo aus die Wege in alle Richtungen führen können und dürfen. Wir haben keine Erwartungen aneinander, Berlin und ich, aber ich finde hier immer wieder zurück. Und das ist ja meistens die Grundvoraussetzung für eine gute Beziehung.“
Ilona Hartmann