Gangbang-Kunden und Workaholics – Allgemeinärztin Nina kuriert sie alle

© Matze Hielscher

Seit ich im März auf der Rennbahn war, um über den Jockey zu schreiben, schleppe ich eine Bronchitis mit mir herum. Antibiotika hatte ich schon, aber die Lunge wird einfach nicht sauber. Also geh ich zähneknirschend zu meiner Hausärztin nach Tempelhof. Nina Klopstock (die nicht wirklich so heißt) ist Berlinerin und noch keine vierzig. Sie hat keinen Doktor, aber dafür ihre eigene Praxis.

„Wie läuft’s mit dem Schreiben?“, will sie wissen, während sie mich ein- und ausatmen lässt. „Geht so“, sag ich. „Da war so ein Porno-Produzent, über den ich ein Porträt machen wollte. Aber der Sack hat mich einfach versetzt.“
„Oh, Mann. Ick hat hier ooch grad een sitzen. Den janzen Puller voller Feigwarzen. Groß wie Rosinen! Und erzählt mir, er hat noch nie Sex gehabt. Wat soll ick da sagen? Darüber musste mal wat schreiben!“

„Würd ich gern.“
„Echt? Oh, dit fänd ick total schau!“
„Und was ist mit deiner Schweigepflicht?“
„Ach.“ Sie winkt ab. „Ich sag einfach, du bist mein Praktikant.“

Nina ist seit gut fünf Jahren meine Ärztin. Am Anfang war sie noch Angestellte in einer Gemeinschaftspraxis und kriegte regelmäßig Ärger mit ihren Kollegen. Weil sie ein Hummelhotel auf ihrer Fensterbank stehen hatte. Und die Tauben fütterte. Die dann die parkenden Autos und Fahrräder unter dem Fenster verdreckten.
Ihre neue Praxis liegt im zweiten OG eines 50er-Jahre-Aufbauhauses. Man findet sie nur durch das kleine Schild neben den Klingeln. Aber das ist ja oft so in Berlin.

 

Wer Pusteln am Puller hat, muss halt mal blankziehen.

Als ich an dem vereinbarten Nachmittag ankomme, ist Nina schon am Rotieren:
„Frau Kowalski! Antreten!“, brüllt sie ins Wartezimmer, kommt kurz darauf um die Ecke. „Na, wie jeht’s Ihrer Blase? Soll’n wa ma schauen, ob wieder allet lecker is? Ham Sie was dagegen, wenn mein Praktikant mit rein kommt?“

Frau Kowalski schüttelt den Kopf, überfordert vom Redeschwall. Noch bevor sie sitzt, geht es weiter: „Mensch, Frau Kowalski, wat mach ick denn mit Ihnen? Der Abstrich war völlig in Ordnung.“
„Aber es zwickt so“, sagt die Alte.
„Wo denn genau?“

Frau Kowalski macht eine großzügig kreisende Geste über ihrem Torso. Nina runzelt die Stirn, fragt dann, ob sie ihr eine Überweisung zum Urologen schreiben soll.
„Ach, das ist doch nicht nötig, Frau Doktor. Ich komm einfach nächste Woche nochmal.“ „Seit ’nem halben Jahr jeht dit schon so“, sagt Nina, als wir wieder allein sind.

© Matze Hielscher

„Hast du oft Hypochonder hier?“
„Andauernd. Aber viel schlimmer sind die Unverwüstlichen. Die nie zugeben, dass sie was haben. Und natürlich die Junkies.“
„Wie gehst du denn mit denen um?“
„Kommt drauf an, watse mir erzählen. Manchmal verschreib ich auch Methadon. Aber ick lass mich nicht unter Druck setzen.“

Die Frau, die ihren Job aufs Spiel setzt, um Tauben zu füttern, wirkt entschlossen, als sie das sagt. Ich frage, ob es ihr leicht fällt, Distanz zu ihren Patienten zu wahren.
„Überhaupt nicht. Mein Mann könnte dir’n Lied davon singen. Wat der sich immer anhören muss! Und neulich hab ich wieder eenem meine private Nummer für Notfälle gegeben. Der ruft jetzt zehnmal am Tag an.“

Ich schlage vor, mal wieder einen Patienten ins Zimmer zu bitten.
„Ja, is jut, Mensch.“ Sie öffnet die Tür und brüllt in den Korridor. „Nadine! Habt ihr den Strobel schon fertig? Echt? Dann soll er reinkommen und sein EKG mitbringen!“
Herr Strobel ist so sehr mit seinem Smartphone beschäftigt, dass er keine Notiz von mir nimmt. Nina wirft einen raschen Blick auf das Diagramm.

„Der Abstand hier gefällt mir nicht. Ick schick sie zum Langzeit-EKG. Haben Sie einen Kardiologen?“
„Ich bin nur noch bis Freitag in Berlin“, sagt Herr Strobel. ohne aufzublicken. Nina wählt die Nummer eines Kollegen, benutzt dazu ihr privates Telefon.

„Schulle?“, meldet sie sich. „Ick hab hier’n Abstand im Sinus, den würd ick dir gerne rüberschicken. Nein, ich will natürlich noch diese Woche einen Termin.“ Sie zwinkert mir triumphierend zu. „Am Donnerstag? Zwölf Uhr dreißig?“
„Da kann ich nicht“, sagt Herr Strobel.

„Ey, danke, mein Schatz. Ja, er kommt pünktlich. Ick knutsch dich.“
„Ich kann am Donnerstag nicht!“, ruft der Abstand im Sinus nochmal, nachdem Nina aufgelegt hat. „Da muss ich einen Vortrag halten.“
„Nein, das hier ist wichtiger.“ Ihr Blick ist so bestimmend, dass er kurz schluckt und noch beim Rausgehen seinen Vortrag verschiebt. Nina schüttelt den Kopf.

„Warum hast du eigentlich keinen Doktor?“, frag ich. „Braucht man den nicht?“
„Nee, Quatsch. Ein Koch braucht ja auch keinen Stern.“
„Aber in anderen Ländern haben alle...“
„In anderen Ländern kriegt man den Titel auch nachgeschmissen. Hier musste noch extra ’ne Dissertation schreiben.“
„Und wolltest du das nicht?“
„Doch. Aber dit kann ick keenem erzählen. Die lachen mich aus.“
„Erfährt ja keiner“, wage ich einen Scherz.
„Ick hab’s mir im Labor mit meinem Doktorvater verschissen.“
„Was hast du denn angestellt?“

Die kommen immer am Dienstag, wenn sich die Schmierinfektion aus'm Berghain am Wochenende ihren Weg gebahnt hat.

„Ick hab die Versuchstiere mit nach Hause genommen. Det ging gar nicht.“
Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, weiß sie selbst, wie schrullig sie ist. Aber sie scheint nichts zu bereuen.

„Und warum bist du überhaupt Ärztin geworden?“
„Weil mein Vater gesagt hat, dass aus mir nie was wird.“
„Bist du denn jetzt zufrieden?“
„Ey, ick hab meene eijene Praxis. Is doch nicht schlecht für ’ne Ostpocke.“
„Kommt doch bei den Alten bestimmt gut an, dein Dialekt.“
„Ja. Aber ick wär deswegen fast durch die Facharzt-Prüfung gerauscht. Ich hatte nur Glück, dass im Ausschuss auch ’ne Berliner Schnitte saß.“

In dem Moment kommt die Ärztin ins Zimmer, die bei Nina angestellt ist.
„Du, ich hab bei mir einen mit Magen-Darm sitzen. Er meint, er hat was Schlechtes gegessen. Aber er will nur mit dir reden.“
„Wie sieht er denn aus?“, fragt Nina, während sie die Überweisung für Herrn Strobel tippt. „Ich weiß nicht. Was meinst du?“
„Isser ’ne Feieratze?“
„Ja, könnte schon sein.“
„Chlostridium difficile. Verschreib ihm Metronidazol. Und er soll in Zukunft verhüten, wenn er im Club steil geht.“

Die Kollegin verlässt das Zimmer. Ich schaue Nina fragend an.
„Gangbang-Kunde“, sagt sie trocken. „Hab ick jede Woche fünf oder sechs hier zu sitzen. Die kommen immer am Dienstag, wenn sich die Schmierinfektion aus’m Berghain am Wochenende ihren Weg gebahnt hat.“

Ich verbringe ein paar intime Augenblicke mit meinem unappetitlichen Kopfkino. Dann raffe ich mich zu den letzten Fragen auf: „Gibt es noch Sachen, die dir peinlich sind?“

„Klar. Kommt immer drauf an, wie mein Gegenüber ist. Wenn er sich ziert, find ick’s ooch komisch. Aber wer Pusteln am Puller hat, muss halt mal blankziehen. Per Ferndiagnose kann ick da nüscht sagen.“
„Und was sind die schönsten Momente in deinem Job?“
„Wenn ick recht habe natürlich. Meistens kann man ja nur Vermutungen anstellen. Aber wenn mein Instinkt Leben rettet, is det schon schau. Kommt gar nicht so selten vor, wie du denkst.“
„Ich bin mir sicher, du bist die beste Schamanin der Stadt.“
„Jaja. Komplett ballaballa bin ick. Wie jeht’s überhaupt deiner Lunge?“
„Ist alles wieder in Ordnung.“
„Na, wenigstens. Dann kannste ja wat Nettes über mich schreiben.“
„Werd mir Mühe geben“, sag ich und klappe mein Notizbuch zu.

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